Doctor Sleep (German Edition)
Wohnmobil.
Am Morgen des elften Septembers beobachteten die Wahren die Angriffe auf die Twin Towers vom Parkplatz aus, wobei vier Ferngläser von Hand zu Hand gingen. Im Sinatra-Park hätten sie einen besseren Blick gehabt, aber Rose musste ihnen nicht erst sagen, dass es Argwohn geweckt hätte, sich frühzeitig dort zu versammeln … und in den folgenden Monaten und Jahren sollten die Vereinigten Staaten zu einer sehr argwöhnischen Nation werden: Wann immer du was siehst, zeig es an!
Gegen zehn Uhr, als sich am Flussufer überall Scharen von Menschen versammelt hatten, zogen sie schließlich zum Park. Pea und Pod, die Little-Zwillinge, schoben den Rollstuhl von Grampa Flick. Grampa trug seine Mütze, die ihn als Veteranen kennzeichnete. Sein langes, babyfeines, weißes Haar wallte unter den Rändern der Mütze hervor wie Seidenfäden. Früher hatte er sich als Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges ausgegeben. Später des Ersten Weltkrieges. Inzwischen war es der Zweite Weltkrieg. In weiteren zwanzig Jahren musste er seine Story wohl nach Vietnam verlegen. Plausibel hatte Grampa immer geklungen, denn in Militärgeschichte kannte er sich blendend aus.
Der Sinatra-Park war überfüllt. Die meisten Menschen schwiegen, manche weinten. Was das anging, waren Apron Annie und Black-Eyed Susie sehr nützlich, weil beide auf Befehl weinen konnten. Die anderen setzten einen passenden Ausdruck aus Kummer, Ernst und Verblüffung auf.
Alles in allem fügte der Wahre Knoten sich perfekt ein. Das war seine Masche.
Die Schaulustigen kamen und gingen, aber die Wahren blieben fast den ganzen Tag, der wolkenlos und wunderschön war (freilich mit Ausnahme der dichten, schmutzigen Rauchwolken, die im Süden von Manhattan aufstiegen). Sie standen am Eisengeländer, ohne sich miteinander zu unterhalten. Sie sahen bloß zu und taten dabei langsame, tiefe Atemzüge wie Touristen aus dem Mittleren Westen, die zum ersten Mal in Maine am Pemaquid Point oder am Leuchtturm von Quoddy Head standen und tief die frische Meeresluft einsogen. Als Ausdruck ihres Respekts nahm Rose ihren Zylinder ab und hielt ihn an der Seite.
Um vier Uhr nachmittags marschierten sie gestärkt in ihr Lager auf dem Parkplatz zurück. Sie würden am nächsten Tag wiederkommen, am übernächsten und am Tag danach. Sie würden wiederkommen, bis der gute Steam verbraucht war, und dann würden sie weiterziehen.
Bis dahin war das weiße Haar von Grampa Flick bestimmt wieder eisengrau geworden, und den Rollstuhl brauchte er dann auch nicht mehr.
Kapitel drei
LÖFFEL
1
Es waren zwanzig Meilen von Frazier nach North Conway, aber Dan Torrance fuhr dennoch jeden Donnerstagabend mit dem Auto hin, teilweise einfach deshalb, weil er es konnte. Inzwischen arbeitete er im Hospiz, verdiente anständig und hatte seinen Führerschein wieder. Das Auto, das er sich dazu gekauft hatte, war nichts Besonderes, bloß ein drei Jahre alter Caprice mit stinknormalen Reifen und einem nicht immer funktionierenden Radio, aber der Motor war in Ordnung, und jedes Mal wenn er den Wagen anließ, fühlte er sich wie der glücklichste Mensch in ganz New Hampshire. Wenn er nie wieder einen Bus besteigen musste, dachte er, konnte er glücklich sterben. Es war Januar 2004. Mit Ausnahme einiger zufälliger Gedanken und Bilder – und natürlich der besonderen Aufgabe, die er manchmal im Hospiz erfüllte – lief sein Shining in ruhigeren Bahnen. Die sozusagen ehrenamtliche Tätigkeit im Hospiz hätte er in jedem Fall übernommen, aber dank seiner Zeit bei den Anonymen Alkoholikern sah er sie auch als eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung, was Leute, die von ihrer Sucht genasen, für fast ebenso wichtig hielten, wie sich von ihrem nächsten Glas Schnaps fernzuhalten. Wenn er es noch weitere drei Monate schaffte, die Finger von der Flasche zu lassen, konnte er drei trockene Jahre feiern.
Wieder Auto fahren zu dürfen war ein wichtiger Aspekt der täglichen Dankbarkeitsmeditation, auf der Casey K. beharrte (weil, wie er mit der verdrießlichen Gewissheit eines alten AA -Mitglieds sagte, ein dankbarer Alkoholiker sich nicht besäuft). Vor allem aber fuhr Dan am Donnerstag hin, weil es bei diesem Meeting um das Blaue Buch ging, und das wirkte tröstlich auf ihn. Es hatte einen intimen Charakter. An manchen der offenen Meetings in der Gegend nahmen unangenehm viele Leute teil, aber am Donnerstagabend in North Conway war das nie der Fall. Ein alter AA -Spruch lautete: Wenn du etwas vor einem
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