Doctor Sleep (German Edition)
passierte. Babys in Kloschüsseln, Babys in Müllcontainern. Wenn sie nun in einem dieser hässlichen Stahlbecken ertrank, die man in öffentlichen Toiletten vorfand, bis zum Mund und zur Nase in mit blauem Desinfektionsmittel vermischtem Wasser zappelnd?
Aber Abra lag auf dem Boden. Sie war nackt. Aus Augen, die in Tränen schwammen, starrte sie zu ihrer Mutter auf. Auf ihre Brust war mit etwas, was wie Blut aussah, die Zahl 11 geschrieben.
6
David Stone träumte, dass er den Schreien seiner Tochter eine endlose Rolltreppe hinauf folgte, die langsam, aber unerbittlich in die falsche Richtung lief. Schlimmer noch, diese Rolltreppe befand sich in einem Einkaufscenter, und das Center stand in Flammen. Er hätte schon ersticken müssen, lange bevor er das obere Ende der Treppe erreichte, aber das Feuer brachte keinen Rauch hervor, nur eine flammende Hölle. Er hörte auch keinerlei anderes Geräusch als Abras Schreie, obwohl er Menschen wie mit Kerosin getränkte Fackeln brennen sah. Als er es endlich nach oben schaffte, sah er Abby wie Abfall, den jemand weggeworfen hatte, auf dem Boden liegen. Männer und Frauen rannten achtlos um sie herum, und trotz den Flammen versuchte niemand, die Rolltreppe zu benutzen, obwohl sie nach unten lief. Alle rannten einfach ziellos in alle Richtungen wie Ameisen, deren Haufen von der Egge eines Traktors aufgerissen wurde. Eine Frau mit Stöckelschuhen wäre fast auf seine Tochter getreten, was diese garantiert umgebracht hätte.
Abra war nackt. Auf ihrer Brust prangte die Zahl 175.
7
Als die Stones gemeinsam aufwachten, waren beide anfangs davon überzeugt, dass die Schreie, die sie hörten, ein Überbleibsel ihres Traums waren. Aber nein, die Schreie erschallten in ihrem Zimmer. Abby lag mit weit aufgerissenen Augen, geröteten Wangen und geballten Fäusten in ihrem Bettchen unter ihrem Shrek-Mobile und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Frische Windeln konnten sie ebenso wenig beruhigen wie die Brust, schier endlose Wanderungen den Flur auf und ab und das tausendfache Absingen eines Wiegenlieds. Voller Angst, weil Abby ihr erstes Kind war und sie nicht mehr weiterwusste, rief Lucy schließlich Concetta in Boston an. Obwohl es zwei Uhr morgens war, nahm ihre Momo schon beim zweiten Läuten ab. Sie war fünfundachtzig, und ihr Schlaf war so dünn wie ihre Haut. Dem Heulen ihrer Urenkelin lauschte sie aufmerksamer als Lucys verwirrter Aufzählung der üblichen Maßnahmen, mit denen sie es versucht hätten, dann stellte sie die einschlägigen Fragen. »Hat sie vielleicht Fieber? Zieht sie an einem ihrer Ohren? Zappelt sie mit den Beinen, als müsste sie Cacca machen?«
»Nein«, sagte Lucy. »Das ist es alles nicht. Sie ist vom Schreien ein bisschen erhitzt, aber ich glaube nicht, dass sie Fieber hat. Momo, was soll ich nur tun?«
Chetta, die inzwischen an ihrem Schreibtisch saß, zögerte nicht. »Lass ihr noch fünfzehn Minuten Zeit. Wenn sie sich nicht beruhigt und die Brust nimmt, bring sie ins Krankenhaus.«
» Was? Nach Boston?« So verwirrt und erregt, wie sie war, fiel Lucy nichts anderes ein. Dort hatte sie entbunden. »Bis dahin sind es hundertfünfzig Meilen!«
»Nein, nein. Nach Bridgton. Gleich hinter der Grenze von Maine. Das ist sogar ein wenig näher als das in Concord.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ja. Schließlich sitze ich an meinem Computer.«
Abra beruhigte sich nicht. Ihr Schreien war monoton, unerträglich, erschreckend. Als sie im Krankenhaus von Bridgton ankamen, war es Viertel vor vier, und Abra schrie immer noch in voller Lautstärke. Autofahrten wirkten normalerweise besser als eine Schlaftablette, an diesem Morgen jedoch nicht. David dachte an ein Gehirnaneurysma und fragte sich, ob er noch ganz bei Sinnen war. Babys bekamen keinen Schlaganfall … oder doch?
»Davey?«, sagte Lucy mit leiser Stimme, als sie auf das Schild mit der Aufschrift NOTAUFNAHME zufuhren. »Babys bekommen doch keinen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt … nicht wahr?«
»Nein, bestimmt nicht, da bin ich mir ganz sicher.«
Doch da kam ihm etwas Neues in den Sinn. Womöglich hatte die Kleine irgendwie eine Sicherheitsnadel verschluckt, die in ihrem Magen aufgegangen war? Das ist bescheuert – wir verwenden doch Pampers, keine Stoffwindeln, wie soll sie da an eine Sicherheitsnadel kommen.
Dann musste sie etwas anderes geschluckt haben. Eine von Lucys Haarklemmen. Einen verirrten Reißnagel, der in ihr Bettchen gefallen war. Vielleicht sogar, du lieber Himmel, ein
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