Doctor Sleep (German Edition)
andere Farbe: eine kleine Blutkruste unter jedem Nasenloch und in einem Winkel des geschlossenen Mundes.
Dan ging ins Bad und nahm einen Waschlappen, den er mit warmem Wasser tränkte und auswrang. Als er wieder zu Charlies Bett kam, erhob sich Azzie und trat behutsam auf die andere Seite des Schlafenden, damit Dan genug Platz hatte, sich zu setzen. Das Laken war noch warm von Azzies Körper. Sanft wischte Dan das Blut unter Charlies Nase ab. Während er mit dem Mundwinkel beschäftigt war, schlug Charlie die Augen auf. »Dan. Sie sind es doch, nicht wahr? Meine Augen sind ein wenig trübe.«
Blutunterlaufen waren sie.
» Wie geht es Ihnen, Charlie? Tut Ihnen etwas weh? Wenn Sie Schmerzen haben, kann Claudette Ihnen eine Tablette bringen.«
»Keine Schmerzen«, sagte Charlie. Sein Blick wanderte zu Azzie, dann zurück zu Dan. »Ich weiß, weshalb er da ist. Und ich weiß auch, weshalb Sie da sind.«
»Ich bin da, weil der Wind mich aufgeweckt hat. Azzie hat sich wahrscheinlich nur nach etwas Gesellschaft gesehnt. Katzen sind immerhin nachtaktive Tiere.«
Dan schob den Ärmel von Charlies Schlafanzugjacke hoch, um ihm den Puls zu fühlen. Auf dem dürren Unterarm des alten Mannes waren in einer Reihe vier violette Blutergüsse sichtbar. Bei fortgeschrittener Leukämie bekamen die Patienten schon blaue Flecke, wenn man sie nur anhauchte, aber diese Dinger waren von Fingern verursacht worden, und Dan wusste nur zu gut, wer dafür verantwortlich war. Seit er trocken war, hatte er seine Wut besser unter Kontrolle, aber sie war immer noch da, genau wie der gelegentliche starke Drang, sich einen hinter die Binde zu kippen.
Carling, du mieses Schwein! Hat er sich nicht schnell genug bewegt? Oder war es dir bloß zu lästig, ihm das Blut abzuwischen, statt in irgendwelchen Zeitschriften zu blättern und diese verfluchten gelben Cracker zu mampfen?
Er versuchte, seine Gefühle nicht zu zeigen, aber Azzie schien sie zu spüren und gab ein kurzes, kummervolles Miauen von sich. Unter anderen Umständen hätte Dan womöglich ein paar Fragen gestellt, aber jetzt musste er sich um dringendere Angelegenheiten kümmern. Azzie hatte wieder recht gehabt. Dan musste den Alten nur berühren, um das zu erkennen.
»Ich hab ziemlich Angst«, sagte Charlie. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Das leise, beständige Stöhnen des Windes draußen war lauter. »Das hätte ich nicht erwartet, aber so ist es.«
»Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten.«
Statt Charlie den Puls zu fühlen – das war eigentlich völlig sinnlos –, ergriff er mit beiden Händen die Hand des alten Mannes. Er sah Charlies Söhne, Zwillinge, im Alter von vier Jahren auf der Schaukel sitzen. Er sah, wie Charlies Frau im Schlafzimmer die Jalousie herunterzog, nackt bis auf den Schlüpfer aus belgischer Spitze, den ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er sah, wie ihr Pferdeschwanz über eine Schulter schwang, als sie sich umdrehte, um ihn anzublicken, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln, das voll und ganz ja sagte. Er sah einen Farmall-Traktor, dessen Sitz von einem gestreiften Regenschirm geschützt war. Er roch Frühstücksspeck und hörte Frank Sinatra »Come Fly with Me« singen. Die Musik kam aus einem ramponierten Motorola-Radio, das auf einem Arbeitstisch mit allerhand Werkzeug stand. Er sah eine mit Regenwasser gefüllte Radkappe, in der sich eine rote Scheune spiegelte. Er schmeckte Blaubeeren, weidete einen Hirsch aus und angelte in einem fernen See, auf dessen Oberfläche ein steter Herbstregen trommelte. Er war sechzig und tanzte mit seiner Frau im Saal der American Legion. Er war dreißig und hackte Holz. Er war fünf, trug kurze Hosen und zog ein rotes Wägelchen hinter sich her. Dann verschwammen die Bilder ineinander, wie es Karten taten, wenn sie von einem geübten Spieler gemischt wurden, und der Wind wehte Schneemassen von den Bergen herab, während hier im Zimmer Stille herrschte und Azzie das Geschehen mit großem Ernst beobachtete. In solchen Augenblicken wusste Dan, wozu er auf der Welt war. Er bedauerte nichts von dem Schmerz, dem Kummer, der Wut und dem ganzen Entsetzen, denn dies alles hatte ihn hierhergeführt, während draußen der Wind heulte. Charlie Hayes war an die Grenze gelangt.
» Vor der Hölle hab ich keine Angst. Ich hab ein anständiges Leben geführt, und ich glaube sowieso nicht, dass es so etwas gibt. Ich hab Angst, es könnte nachher gar nichts kommen.« Er rang nach Atem. Im
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