Doctor Sleep (German Edition)
Brocken.
Außerhalb seiner Nachmittagsruhe blieb Azzie nur selten lange an einem Ort. Er war immer unterwegs, machte Besuche, unternahm etwas. (»Dieser Kater ist ein echter Gesellschaftslöwe«, hatte Claudette einmal zu Danny gesagt.) Zum Beispiel sah man ihn im Wellnessbereich hocken, wo er sich wärmte und die Pfoten leckte. Oder er entspannte sich im Fitnessraum auf einem stillstehenden Laufband. Saß auf einer leeren Transportliege und starrte in die Luft auf jene Dinge, die nur Katzen sehen konnten. Manchmal pirschte er mit angelegten Ohren durch den Garten, der Inbegriff eines Raubtiers, aber wenn er Vögel oder Streifenhörnchen fing, trug er sie in einen Nachbargarten oder über die Straße in den Stadtpark, um sie dort zu zerlegen.
Der Gemeinschaftsraum war rund um die Uhr geöffnet, aber Azzie suchte ihn nur selten auf, wenn der Fernseher ausgeschaltet war und die Gäste ihn verlassen hatten. Wenn der Abend zur Nacht wurde und der Pulsschlag des Hospizes sich verlangsamte, wurde Azzie unruhig und patrouillierte durch die Flure wie ein vierbeiniger Wachposten am Rande von Feindesland. Sobald die Beleuchtung heruntergedreht wurde, bemerkte man ihn womöglich gar nicht, wenn man den Blick nicht direkt auf ihn richtete. Sein unauffälliges, mausgraues Fell verschwamm im Schatten.
In die Zimmer der Bewohner ging er nie, es sei denn, einer lag im Sterben.
Dann jedoch schlüpfte er entweder hinein (wenn die Tür einen Spalt weit offen stand), oder er hockte sich davor, den Schwanz um die Hinterbeine gelegt, und verlangte mit leisem, hö fl ichem Miauen Einlass. Wenn man ihm aufmachte, sprang er auf das Bett des betreffenden Gastes (im Rivington House sprach man immer von Gästen, nie von Patienten) und ließ sich dort schnurrend nieder. War die darin liegende Person wach, so wurde er von ihr manchmal gestreichelt. Soweit Dan wusste, hatte niemand je verlangt, Azzie hinauszuwerfen. Alle schienen zu wissen, dass er als Freund gekommen war.
» Wer ist der diensthabende Arzt?«, fragte Dan.
»Du«, erwiderte Claudette prompt.
»Du weißt schon, was ich meine. Der echte Arzt.«
»Emerson, aber als ich seinen Telefondienst angerufen habe, hat mir die Frau da gesagt, das könnten wir vergessen. Von Berlin bis Manchester ist alles eingeschneit. Die Schneepflüge fahren bloß auf den Schnellstraßen, hat sie gesagt, überall sonst wartet man aufs Tageslicht.«
»Na gut«, sagte Dan. »Ich bin schon unterwegs.«
3
Nachdem er eine Weile im Hospiz gearbeitet hatte, war Dan klar geworden, dass selbst für die Sterbenden ein Klassensystem existierte. Die Gästezimmer im Haupthaus waren größer und teurer als jene in den beiden Nebengebäuden. In der viktorianischen Villa, in der Helen Rivington einst residiert und ihre Liebesromane geschrieben hatte, wurden die Zimmer als Suiten bezeichnet und trugen die Namen berühmter Persönlichkeiten aus New Hampshire. Charlie Hayes lag in dem nach Alan Shepard benannten Raum. Um dorthin zu gelangen, musste Dan an der Imbissecke unten an der Treppe vorbei, wo Verkaufsautomaten und einige Stühle aus Hartplastik standen. Auf einem davon lümmelte Fred Carling, mampfte Erdnussbuttercracker und las eine alte Ausgabe von Popular Mechanics . Carling war einer der drei Pfleger in der von Mitternacht bis acht Uhr morgens laufenden Schicht. Die anderen beiden rotierten zweimal monatlich; Carling tat das nie, weil er nachts besser seine Zeit absitzen konnte. Deshalb bezeichnete er sich als Nachtmensch. Er war bullig, und seine muskulösen, mit verschlungenen Tätowierungen bedeckten Arme ließen auf eine Biker-Vergangenheit schließen.
»Sieh mal an, wer da kommt«, sagte er. »Der liebe Danny. Oder bist du gerade in deiner Geheimidentität unterwegs?«
Dan war erst halb wach und nicht in der Stimmung, Witze zu reißen. » Was weißt du von Mr. Hayes?«, fragte er.
»Nichts, außer dass der Kater bei ihm drin ist, und das bedeutet normalerweise ja, dass da bald jemand ins Gras beißen wird.«
»Keine Blutungen?«
Carling hob die massigen Schultern. »Na ja, ein bisschen Nasenbluten hatte er schon. Ich hab die blutigen Handtücher in ’nen Seuchensack gesteckt, genau nach Vorschrift. Sie sind in Wäschekammer A, falls du sie dir anschauen willst.«
Dan wollte schon fragen, wie man ein Nasenbluten, für das man mehr als ein Handtuch brauchte, mit »ein bisschen« charakterisieren konnte, verzichtete jedoch darauf. Carling war ein gefühlloser Trottel, und wie er hier einen Job
Weitere Kostenlose Bücher