Doctor Sleep (German Edition)
Einkaufszettelblock in der Küche gekritzelt hatte, aber immerhin fünf. Ihre religiösen Überzeugungen hatten die Familie siebzigtausend Dollar gekostet. Sie hatte den Jungen inständig gebeten, seinem Vater nichts zu erzählen, was Richard prompt versprochen hatte. Er war ein guter Junge, ein wunderbarer Junge.
Etwa zwei Monate nach dem Lottogewinn, der keiner gewesen war, wurde Mrs. Gaylesworthy in ihrer Küche erschossen, und der ebenso gute wie wunderbare Junge verschwand. Inzwischen war seine Leiche schon lange in dem verwahrlosten Acker einer aufgelassenen Farm verwest, doch als Rose the Hat das Ventil der metallisch glänzenden Flasche öffnete, entwich seine Essenz – sein Steam – als Wolke aus glitzerndem, weißem Dunst. Sie stieg bis zu einer Höhe von einem knappen Meter über die Flasche auf, dann breitete sie sich flach aus. Die Wahren standen mit erwartungsvoller Miene da und blickten zu ihr empor. Die meisten zitterten. Einige weinten sogar.
»Nehmt Nahrung auf und dauert fort«, sagte Rose und hob die Hände, bis ihre gespreizten Finger sich direkt unter der Fläche aus silbernem Dunst befanden. Sie bewegte die Hände leicht nach unten. Sofort begann der Dunst sich zu senken und nahm eine Schirmform an, während er auf die Wartenden zuschwebte. Als deren Köpfe von weißem Dunst umhüllt waren, begannen sie tief zu atmen. In den nächsten fünf Minuten gerieten einige ins Hyperventilieren und sanken ohnmächtig zu Boden.
Rose wiederum spürte, wie sie körperlich anschwoll und ihr Geist sich schärfte. Jeder einzelne Duft dieser Frühlingsnacht offenbarte sich ihr. Sie wusste, dass die feinen Fältchen um ihre Augen und ihren Mund verschwanden. Die weißen Strähnen in ihrem Haar wurden wieder dunkel. Im weiteren Verlauf der Nacht würde Crow in ihr Wohnmobil kommen, und dann würden sie in ihrem Bett wie Fackeln lodern.
Sie inhalierten Richard Gaylesworthy, bis er verschwunden war – wirklich und wahrhaftig verschwunden. Der weiße Dunst wurde dünner und löste sich dann auf. Wer in Ohnmacht gefallen war, setzte sich auf und sah sich lächelnd um. Grampa Flick griff sich Petty the Chink, Barrys Frau, und legte ein flottes kleines Tänzchen mit ihr hin.
»Lass mich los, du alter Esel!«, fuhr sie ihn an, lachte dabei aber.
Snakebite Andi und Silent Sarey tauschten tiefe Küsse. Andis Hände wühlten dabei in Sareys mausgrauen Haaren.
Rose sprang vom Picknicktisch herunter und sah Crow an. Der bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und grinste sie an.
Alles in bester Ordnung, drückte dieses Grinsen aus, und so war es auch. Vorläufig. Trotz ihrer Euphorie musste Rose an die Flaschen in ihrem Safe denken. Nun waren nicht mehr nur siebenunddreißig leer, sondern achtunddreißig. Sie standen mit dem Rücken noch einen Tick näher an der Wand.
5
Am nächsten Morgen rollten die Wahren weiter, sobald es dämmerte. Sie nahmen die Route 12 zur I-64, vierzehn Wohnmobile in einer eng geschlossenen Karawane. Sobald sie die Interstate erreicht hatten, würden sie mehr Abstand voneinander halten, damit sie nicht so offensichtlich zusammengehörig erschienen. Per CB -Funk hielten sie Kontakt für den Fall, dass es Scherereien gab.
Oder falls eine Gelegenheit an die Tür klopfte.
Ernie und Maureen Salkowicz, frisch aus einem wunderbaren Schlaf erwacht, waren sich einig, dass diese Wohnmobilleute die besten Gäste gewesen waren, die sie je gehabt hatten. Die hatten nicht nur bar bezahlt und ihre Standplätze blitzsauber hinterlassen, jemand hatte sogar einen Brotpudding mit Äpfeln auf die oberste Stufe des Wohnwagens gestellt, samt einer wirklich netten Dankeskarte. Wenn sie Glück hatten, sagten die Salkowiczs sich, während sie ihr Geschenk zum Frühstück statt als Dessert verzehrten, kamen die Leute im nächsten Jahr wieder.
» Weißt du was?«, sagte Maureen. »Ich hab geträumt, diese Lady aus der Versicherungswerbung – Flo – hätte dir ’ne riesige Lebensversicherung verkauft. Ist das nicht ein irrer Traum?«
Ernie grunzte und klatschte sich noch einen Löffel Schlagsahne auf seinen Brotpudding.
»Hast du auch etwas geträumt, Schatz?«
»Nee.«
Er wandte den Blick jedoch von ihr ab, während er ihre Frage beantwortete.
6
An einem heißen Julitag in Iowa wendete sich das Glück des Wahren Knotens. Wie immer führte Rose die Karawane an, und gleich westlich von Adair gab das Sonargerät in ihrem Kopf ein Ping von sich. Dieses Ping war nicht markerschütternd, aber dennoch
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