Doctor Sleep (German Edition)
hatten, und der Mond hat einfach durch sie hindurchgeschienen.
Am darauffolgenden Nachmittag war Abra wieder mit ihren Freunden herumgerannt, hatte gespielt und gelacht, aber dieses Bild hatte Lucy nie vergessen: tote Menschen, die in dem kleinen Zug durch den Wald fuhren, mit Gesichtern, die im Mondlicht wie durchsichtige Äpfel aussahen. Sie hatte Concetta gefragt, ob diese mit Abra schon einmal während eines ihrer »Mädelstage« mit der Eisenbahn gefahren sei. Chetta hatte das verneint. Die beiden waren zwar in Teenytown gewesen, aber der Zug hatte sich gerade in Reparatur befunden, weshalb sie stattdessen mit dem Karussell gefahren waren.
Nun blickte Abra zu ihrer Mutter hoch und fragte: » Wann kommt Daddy wieder?«
»Übermorgen. Er hat gesagt, dass er zum Mittagessen wieder da ist.«
»Das ist zu spät«, sagte Abra. Eine Träne quoll ihr aus dem Auge, kullerte an ihrer Wange herab und fiel auf ihr Pyjamaoberteil.
»Zu spät wofür? Woran erinnerst du dich, Abba-Doo?«
»Sie haben dem Jungen wehgetan.«
Lucy wollte das Ganze eigentlich nicht weiterverfolgen, aber sie hatte das Gefühl, es dennoch tun zu müssen. Es gab zu viele Verbindungen zwischen Abras früheren Träumen und Dingen, die tatsächlich geschehen waren. Zum Beispiel hatte David in der Sun – dem Lokalblatt von North Conway – ein Foto der einäugigen Stoffpuppe entdeckt, unter der Schlagzeile DREI TOTE BEI AUTOUNFALL IN OSSIPEE . Nach Abras Berichten über Leute, die sich angeschrien und aufeinander eingeschlagen hatten, hatte Lucy bei zwei verschiedenen Gelegenheiten in den darauffolgenden Tagen den Polizeibericht nach Festnahmen wegen häuslicher Gewalt durchforscht. Selbst John Dalton war der Meinung, dass Abra womöglich irgendwelche Übertragungen auffing – mit dem »schrägen Radio in ihrem Kopf«, wie er es nannte.
» Was für ein Junge?«, fragte sie daher. » Wohnt er hier in der Gegend? Weißt du das vielleicht?«
Abra schüttelte den Kopf. » Weit weg. Kann mich nicht erinnern.« Dann hellte ihr Gesicht sich auf. Die Schnelligkeit, mit der sie ihre Zustände hinter sich ließ, kam Lucy fast so unheimlich vor wie die Zustände selbst. »Aber ich glaube, ich hab es Tony gesagt. Und der sagt es vielleicht seinem Daddy.«
Tony, ihr unsichtbarer Freund. Den hatte sie schon einige Jahre lang nicht mehr erwähnt, und Lucy hoffte, dass dies keine Regression war. Mit zehn Jahren war man ein bisschen zu alt für unsichtbare Freunde.
»Tonys Daddy kann es vielleicht aufhalten.« Dann verdüsterte Abras Gesicht sich wieder. »Aber ich glaube, dafür ist es zu spät.«
»Tony war schon eine ganze Weile nicht mehr da, stimmt’s?« Lucy stand auf und schüttelte das zerknüllte Laken aus. Abra kicherte, als es an ihr Gesicht schwebte. Für Lucy war dies das schönste Geräusch der Welt. Ein gesundes Geräusch. Außerdem wurde es im Zimmer immer heller. Bald würden die ersten Vögel zwitschern.
»Mami, das kitzelt!«
»Mamis kitzeln ihre Kinder eben gern. Das gehört dazu. Also, was ist mit Tony?«
»Er hat gesagt, er kommt immer, wenn ich ihn brauche«, sagte Abra und schlüpfte unter das Laken. Sie klopfte neben sich aufs Bett, worauf Lucy sich hinlegte und das Kissen mit ihr teilte. »Das war ein schlimmer Traum, und ich hab Tony gebraucht. Ich glaube, er ist gekommen, aber ich kann mich nicht richtig erinnern. Sein Daddy arbeitet in einem Hotspitz.«
Das war etwas Neues. »Ist das ein Restaurant oder ein Laden?«
»Nein, so was Doofes! Das ist für Leute, die sterben werden.« Abra klang gutmütig, fast oberlehrerhaft, aber Lucy lief es trotzdem kalt den Rücken hinunter.
»Tony sagt, wenn Leute so krank sind, dass sie nicht mehr gesund werden, gehen sie in das Hotspitz, und sein Daddy kümmert sich drum, dass sie sich besser fühlen. Tonys Daddy hat einen Kater, der so ähnlich wie ich heißt. Ich heiße Abra, und der Kater heißt Azzie. Ist das nicht seltsam, aber so, dass es lustig ist?«
»Ja. Seltsam, aber lustig.«
John und David hätten wahrscheinlich gesagt, angesichts der Ähnlichkeit der beiden Namen handle es sich bei diesem Kater um die Erfindung eines sehr klugen kleinen Mädchens. Aber das hätten sie nur halb geglaubt, und Lucy glaubte es so gut wie gar nicht. Wie viele Zehnjährige wussten schon, was ein Hospiz war, selbst wenn sie das Wort falsch aussprachen?
»Erzähl mir von dem Jungen in deinem Traum.« Da Abra sich nun beruhigt hatte, schien ein Gespräch über dieses Thema ungefährlicher zu
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