Doctor Sleep (German Edition)
wird er dir endlos damit in den Ohren liegen.
Allerdings würde eine Betreuerin das Zimmer belegen, das sie für Lucy und Abra reserviert hatte, und Chetta lebte für die Besuche der beiden. Jetzt mehr denn je, seit Betty tot war und sie sich anscheinend an Gedichten sattgeschrieben hatte. Und auch wenn sie schon siebenundneunzig war, war sie bisher gut zurechtgekommen und fühlte sich wohl. Gute Gene mütterlicherseits. Hatte nicht ihre eigene Großmutter vier Ehemänner und sieben Kinder zu Grabe getragen, und war sie nicht hundertundzwei geworden?
Um die Wahrheit zu sagen (wenn auch nur sich selbst gegenüber), hatte sie sich im vorangegangenen Sommer allerdings nicht ganz so wohlgefühlt. In diesem Sommer war es etwas … schwierig gewesen.
Als der Schmerz endlich nachließ – ein wenig –, kroch sie durch den kurzen Flur auf die Küche zu, in der sich nun die Morgendämmerung ausbreitete. Vom Boden aus, fand Chetta, war dieses wunderschöne rosafarbene Licht schwerer zu genießen. Jedes Mal wenn die Schmerzen zu stark wurden, hielt sie keuchend inne und legte den Kopf auf ihrem knochigen Arm ab. Während dieser Ruhepausen dachte sie über die sieben Lebensalter des Menschen nach und kam zu dem Schluss, dass diese einen vollkommenen (und vollkommen dämlichen) Kreislauf beschrieben. So wie jetzt hatte sie sich schon einmal vor langer Zeit fortbewegt, im vierten Jahr des Ersten Weltkriegs, den man anschließend – wie lustig – als »letzten aller Kriege« bezeichnet hatte. Damals war sie als Concetta Abruzzi über die Türschwelle des elterlichen Bauernhofs in Davoli gekrabbelt, in der Absicht, draußen die Hühner zu fangen, die ihr jedoch mühelos entwischten. Nach diesem staubigen Anfang hatte sie ein fruchtbares und interessantes Leben geführt. Sie hatte zwanzig Gedichtbände veröffentlicht, mit Graham Greene Tee getrunken und mit zwei amerikanischen Präsidenten diniert. Vor allem war ihr eine goldige, blitzgescheite und mit einer merkwürdigen Gabe ausgestattete Urenkelin geschenkt worden. Und wohin führten all diese wunderbaren Dinge?
Wieder zum Krabbeln, dazu führten sie. Zurück zum Anfang. Dio mi benedica.
Sie erreichte die Küche und schlängelte sich durch ein besonntes Rechteck zu dem Tischchen, an dem sie meistens ihre Mahlzeiten einnahm. Darauf lag ihr Mobiltelefon. Chetta packte ein Tischbein und rüttelte daran, bis das Telefon zur Kante rutschte und herunterfiel. Und zwar – meno male – ohne kaputtzugehen. Sie wählte die Nummer, die man wählen sollte, wenn so ein Mist wie dieser passierte, dann wartete sie, während eine Computerstimme die ganze Absurdität des 21. Jahrhunderts zum Ausdruck brachte, indem sie ihr mitteilte, der Anruf werde aufgezeichnet.
Und endlich, gelobt sei Maria, eine echte menschliche Stimme.
»Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?«
Die Frau auf dem Boden, die in Süditalien einst den Hühnern hinterhergekrabbelt war, sprach trotz ihren Schmerzen klar und zusammenhängend. »Mein Name ist Concetta Reynolds, ich wohne im zweiten Stock einer Anlage in der Marlborough Street 219. Wahrscheinlich habe ich mir die Hüfte gebrochen. Können Sie mir einen Krankenwagen schicken?«
»Ist jemand bei Ihnen, Mrs. Reynolds?«
»Zu meiner Schande leider nicht. Sie sprechen mit einer dummen alten Dame, die darauf bestanden hat, sie könnte prima alleine leben. Ach, übrigens, inzwischen werde ich lieber mit Ms. angesprochen.«
2
Lucy erhielt den Anruf ihrer Großmutter, kurz bevor diese in den Operationssaal geschoben wurde. »Ich hab mir die Hüfte gebrochen, aber das kriegen sie wieder hin«, sagte Concetta. »Ich glaube, sie setzen Schrauben und so Zeug ein.«
»Momo, bist du hingefallen?« Lucy dachte sofort an Abra, die noch eine Woche lang im Sommerlager war.
»O ja, aber der Bruch, der den Sturz verursacht hat, war völlig spontan. Offenbar kommt das bei Leuten in meinem Alter ziemlich häufig vor, und da es heutzutage wesentlich mehr Leute in meinem Alter gibt als früher, haben die Ärzte oft damit zu tun. Es ist nicht nötig, dass du sofort kommst, aber ich glaube, du wirst ziemlich bald kommen wollen. Ich denke, wir werden uns über verschiedene Vorkehrungen unterhalten müssen.«
Lucy spürte Kälte in der Magengrube. » Was für Vorkehrungen denn?«
Da sie mit Valium, Morphin oder irgendeinem anderen Mittel vollgepumpt worden war, fühlte Concetta sich recht gelassen. »Es sieht so aus, dass die gebrochene Hüfte das geringste meiner
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