Doctor Sleep (German Edition)
Mitte allerhand Lokales (vor allem über das regionale Sportgeschehen). Der Rest bestand aus Anzeigen und Coupons. Wäre Lucy zu Hause gewesen, so hätte sie einige der Coupons aufgehoben und den Rest des Blättchens in die Papiermülltonne befördert. Ihre Tochter hätte das Ding nie zu Gesicht bekommen. Da Lucy an diesem Tag jedoch in Boston war, sah Abra es.
Sie blätterte es durch, während sie die Einfahrt entlangschlenderte, dann drehte sie es um. Die Rückseite zeigte vierzig oder fünfzig Fotos, nicht viel größer als Briefmarken, die meisten in Farbe, einige in Schwarz-Weiß. Darüber stand:
HABEN SIE MICH GESEHEN?
Wöchentlicher Service in Ihrem Anniston Shopper
Einen Moment lang dachte Abra, es ginge um einen Wettbewerb, eine Art Schnitzeljagd. Dann wurde ihr klar, dass es sich um die Fotos vermisster Kinder handelte, und es war, als würde sich eine Hand um die weiche Wand ihres Magens legen und ihn wie einen Waschlappen auswringen. Beim Mittagessen hatte sie in der Cafeteria eine Dreierpackung Oreos gekauft und sich für die Busfahrt nach Hause aufgehoben. Nun hatte sie das Gefühl, als würden die Kekse von der umklammernden Hand nach oben in ihre Kehle gepresst.
Sieh nicht hin, wenn es dir Kummer macht, sagte sie sich. Es war die strenge, belehrende Stimme, mit der sie sich oft selber zur Räson brachte, wenn sie bestürzt oder durcheinander war (eine Momo-Stimme, was sie jedoch bisher nicht bewusst erkannt hatte). Wirf es einfach mit dem anderen Mist in die Tonne in der Garage. Nur dass sie anscheinend unfähig war, nicht hinzusehen.
Da war Cynthia Abelard, geb. 9. Juni 2005. Abra rechnete nach und stellte fest, dass Cynthia jetzt acht Jahre alt sein musste. Falls sie überhaupt noch am Leben war. Sie wurde seit 2009 vermisst. Wie kann man denn eine Vierjährige aus den Augen verlieren, fragte sich Abra. Die muss echt beschissene Eltern haben. Aber natürlich hatten die Eltern sie wahrscheinlich nicht aus den Augen verloren. Wahrscheinlich war irgendein Perverser durch die Nachbarschaft geschlichen, hatte seine Chance gesehen und das Kind gestohlen.
Da war Merton Askew, geb. 4. September 1998. Er war 2010 verschwunden.
Da, in der Mitte der Seite, war das Foto eines wunderschönen hispanischen Mädchens namens Angel Barbera, das im Alter von sieben Jahren aus seinem Elternhaus in Kansas City verschwunden und nun schon seit neun Jahren vermisst war. Abra fragte sich, ob die Eltern wirklich dachten, dieses winzige Bild könnte ihnen dabei helfen, ihr Kind zurückzubekommen. Und wenn sie es zurückbekamen, hätten sie es dann überhaupt noch erkannt? Und hätte das Mädchen sie erkannt?
Wirf das weg, sagte die Momo-Stimme. Du hast schon genug Sorgen, auch ohne dir massenhaft vermisste Ki…
Ihr Blick fiel auf ein Bild in der untersten Reihe, und sie stieß einen kaum hörbaren Laut aus. Wahrscheinlich war es ein Stöhnen. Zuerst wusste sie gar nicht, warum; vielmehr wusste sie es fast, es war wie ein Wort, das man in einem Schulaufsatz verwenden wollte, ohne dass es einem richtig einfiel, das verflixte Ding lag einem einfach bloß auf der Zunge.
Das Foto zeigte einen weißen Jungen mit kurzem Haar und einem breiten, albernen Grinsen. Es sah so aus, als hätte er Sommersprossen auf den Wangen. Das Bild war zu klein, das richtig beurteilen zu können, aber
(es sind Sommersprossen das weißt du doch)
irgendwie war sie sich trotzdem sicher. Ja, es waren Sommersprossen; seine großen Brüder hatten ihn deshalb gehänselt, und seine Mutter hatte ihm gesagt, die würden mit der Zeit verschwinden.
»Sie hat ihm gesagt, dass Sommersprossen Glück bringen«, flüsterte Abra.
Bradley Trevor, geb. 2. März 2000. Vermisst seit 12. Juli 2011. Hautfarbe: weiß. Ort: Bankerton, Iowa. Heutiges Alter: 13. Und darunter – unter all den Bilder meist lächelnder Kinder: Wenn Sie glauben, Bradley Trevor gesehen zu haben, wenden Sie sich bitte an das Nationale Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder.
Nur das niemand sich wegen Bradley an das Zentrum wenden würde, weil niemand ihn mehr sehen konnte. Sein heutiges Alter war auch nicht dreizehn. Bradley Trevors Leben war mit elf Jahren stehen geblieben. Es war stehen geblieben wie eine kaputte Armbanduhr, die vierundzwanzig Stunden täglich dieselbe Zeit zeigte. Abra überlegte unwillkürlich, ob Sommersprossen unter der Erde wohl verblassten.
»Der Baseballjunge«, flüsterte sie.
Entlang der Einfahrt standen Blumen. Abra beugte sich vor, stützte sich
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