Doener, Machos und Migranten
warmherziger Mann. Eines Tages unternahm er, so heißt es, gemeinsam mit seinem Sohn einen Spaziergang durch Istanbul. Dabei bemerkte er nicht, dass der Kleine irgendwann verloren ging. Schließlich wurde mein Vater von der Polizei als Straßenkind aufgegriffen. Meine Tanten kostete es nicht nur viel Aufregung und Zeit, ihn auf einem Polizeirevier wiederzufinden, sondern auch noch eine hübsche Stange Geld als Auslösesumme. Jedenfalls starb mein Großvater hochbetagt, als mein Vater elf Jahre alt war.
Mein Vater und seine Schwester lebten in einer 80 Quadratmeter-Eigentumswohnung in einem schönen Viertel Istanbuls, in Koca Mustafa Pasa. Es liegt etwa fünf 5 Autominuten entfernt vom berühmten Topkapi Museum. Das Viertel war geprägt von Familien der Mittelschicht – Lehrer, selbstständige Handwerker, einfache Kaufleute und Bankangestellte. Es war ein sicheres und familienfreundliches Viertel, das sogar ein eigenes Open-Air-Kino hatte.
Mitte der 1950er-Jahre erinnerte noch wenig in der Stadt, die sich auf zwei Kontinenten erstreckt, an die heutige Wirtschaftsmetropole der Türkei. Knapp über 1 Million Menschen lebten in Istanbul, dessen Stadtväter sich erst allmählich an die ruhmreiche, fast 3000-jährige Geschichte des einstigen Konstantinopel erinnerten und umfangreiche Sanierungsarbeiten der zahlreichen baufälligen Stadtteile in Angriff nahmen. Die Menschen strömten aus dem Umland nach Istanbul, denn dort erhofften sie sich Arbeit und einen gewissen Wohlstand. Innerhalb von 20 Jahren verdoppelte sich bis 1975 die Bevölkerung, lag mit 2,5 Millionen jedoch noch weit entferntvon den 10 Millionen, die heute gezählt werden. Kommen die Außenbezirke noch hinzu, hat Istanbul heute etwa 15 Millionen Einwohner.
Als mein Vater mit seiner Schwester in Koca Mustafa Pasa wohnte, hatte Istanbul also noch den Großteil seines rasanten Wachstums vor sich. Die beiden Geschwister konnten sich die Wohnung nur leisten, weil sie von ihrer älteren Schwester Hatice finanziell unterstützt wurden. Sie hatte einen wohlhabenden Amerikaner geheiratet und war in die USA ausgewandert.
Tante Hayriye hatte sich in den Kopf gesetzt, eine passende Frau für ihren Bruder zu finden. Es war für sie eine Herzensangelegenheit, denn es war ihr keineswegs egal, wen er heiratete. Da sie selbst verheiratet aber kinderlos war und blieb, wollte sie auf diesem Weg noch in den Genuss von Kindern kommen. Nach der Hochzeit ihres Bruders würde das junge Ehepaar zunächst mit in der Wohnung der Schwiegereltern leben. Und da die Eltern tot waren, würde Hayriye als ältere Schwester sozusagen in die Rolle der Schwiegermutter schlüpfen. Da sie ebenso perfektionistisch wie pedantisch war und genaue Vorstellungen vom Charakter, den Umgangsformen und der Ordnungsliebe ihrer zukünftigen Schwägerin hatte, stellte sich das Unterfangen, ein geeignetes Mädchen für die geplante Verkupplung zu finden, alles andere als einfach dar. Niemand weiß, wie viele Familien und junge Mädchen sie näher in Augenschein nahm und ablehnte, ehe ihrem Bruder ein Mädchen vorgestellt wurde.
Tante Hayriye bat zunächst Bekannte und Nachbarn darum, nach einer geeigneten Heiratskandidatin Ausschau zu halten. Die Bekannte meiner Tante kannte die Familie Özsoy, die Familie meiner Mutter. Zunächst berichtete Tante Hayriye bei einem ersten Treffen mit meiner zukünftigen Oma von den Familienverhältnissen, in denen sie gemeinsam mit ihremBruder lebte, und pries ihn in den höchsten Tönen. Nachdem sich meine Oma auf diese Weise ein erstes Bild von meinem Vater gemacht hatte, bekundete sie ihr Interesse an einer Kontaktaufnahme. Es wurde ein Treffen arrangiert – natürlich noch ohne den «Bräutigam». Gemeinsam mit einer Bekannten besuchte Tante Hayriye die Familie Özsoy. Bei diesem Treffen wurden allerlei Nettigkeiten ausgetauscht, die deutlich machten, dass beide Familien an einer Verheiratung interessiert waren. Auch die potenzielle Braut war anwesend und servierte Tee. So konnte sich Tante Hayriye davon überzeugen, dass sie gesund war und keine körperlichen Gebrechen hatte.
In der türkischen Gesellschaft steigt die Ehre der Familie, je häufiger fremde Familien um eine Tochter werben. Denn das bedeutet, dass das Mädchen hübsch ist und aus guten und ehrbaren Verhältnissen stammt. Mit anderen Worten: Es lohnt sich, eine Heirat zu arrangieren.
Meine Mutter war damals 17 Jahre alt und wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Halbbruder in einer winzigen Mietswohnung
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