Doener, Machos und Migranten
ihren rehbraunen Augen an und versicherte mir zu meiner Verwunderung und Erleichterung, es sei alles bestens. Die Schreierei und der raue Umgangston des Vaters gehörten anscheinend zum normalen häuslichen Umfeld.
Fatme ist das dritte von fünf Kindern einer libanesischen Familie. Ihre beiden älteren Geschwister Ali und Nesrin hatten ebenfalls unsere Schule besucht. Ihr jüngerer Bruder Ibrahim ging auf eine Förderschule in einem anderen Stadtbezirk. Fatmes jüngster Bruder Mohammed war noch im Kindergarten. Er leidet unter anderem an einem schweren Herzfehler, der schon mehrfach operiert werden musste. Fatme berichtete mir des Öfteren von den vielen Förder- und Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Ergotherapie und Sprachtherapie, an denen ihr kleiner Bruder teilnimmt. Vermutlich wird auch sein weiterer Werdegang auf eine Förderschule führen. Fatmes Mutter hat kaum Zeit für ihre anderen Kinder, da Mohammeds Pflege sie sehr in Anspruch nimmt. Während der zahlreichen Krankenhausaufenthalte von Bruder und Mutter versorgen Fatme und Nesrin die Familie.
Fatmes Familie besteht aus strenggläubigen Muslimen. Die Mutter ist stets in knöchellange Kleider mit ebenso langen Mänteln gekleidet. Die Kleiderordnung in muslimischen Gesellschaften verbietet Frauen das Tragen von Hosen ohne Überkleid in der Öffentlichkeit. Das Haar verdeckt Fatmes Mutter mit einem weißen Baumwolltuch. Sie ist, ebenso wie ihr zweitjüngster Sohn Ibrahim, Diabetikerin und ebenso stark übergewichtig. Leider achten weder sie noch Ibrahim auf entsprechende Diät- und Schonkost. Die Familie ist Hartz-IV-Empfänger und lebt in einer Sozialwohnung im näheren Umfeld der Schule.
Aufgrund der erheblichen schulischen Schwierigkeiten, die Fatme bereits im ersten Grundschuljahr hatte, erklärten sich die Eltern freiwillig bereit, ihre Tochter auf eine Förderschule zu schicken, da ihre älteren Kinder bereits Erfahrungen mit diesem Schultyp gemacht hatten. Fatme wiederholte die Klasse 1 einmal in der Grundschule und einmal in der Förderschule, sodass sie im dritten Schulbesuchsjahr immer noch in die Klasse 1 ging. Um einer «Überalterung» entgegenzuwirken, wurde sie im folgenden Jahr altersgemäß eingestuft.
Das Mädchen zählte zu den sehr leistungsschwachen Schülern der Förderschule und hatte erheblichen Förderbedarf im Bereich der Kognition mit Tendenzen zur geistigen Behinderung. Ihre Denk-, Merk-, Transfer- und Abstraktionsfähigkeit war stark gemindert. Nur selten gelang es, selbst die einfachsten Aufgabenstellungen zu erfassen, bei komplexeren Anforderungen musste sie stets kapitulieren. Fatme erfasste Lerninhalte nur durch anschauliche Hilfen, häufige Wiederholungen und zusätzliche freiwillige Übungen zu Hause. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen, sondern arbeitete über das geforderte Pensum hinaus. Dennoch konnte sie erst in der 7. Klasse durch intensives Üben und großen persönlichen Einsatz sichtbare Fortschritte beim Lesen machen. Fortschritte bedeutete in ihrem Fall, das sie fremde Wörter und Sätze stockend las, wobei sie den Sinn des Gelesenen nur mit Hilfestellung des Lehrers wiedergeben konnte. Mechanische Aufgaben wie Abschreiben kamen ihr sehr entgegen und bereiteten ihr dagegen immer Freude.
Wenn man allein von ihren intellektuellen Leistungen ausgeht, hätte Fatme die Förderschule für geistige Behinderung besuchen müssen. Doch mit ihren lebenspraktischen Fähigkeiten war sie viel zu kompetent für diese Schulform. Fatme fuhr allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln, kaufte ein, kochte, erledigte die Wäsche, versorgte ihre Familie und war eineliebevolle «Ersatzmutter» für ihren jüngsten Bruder. Jeden Tag spielte sie mehrere Stunden mit ihm. Durch ihre Aufenthalte auf dem Spielplatz hatte sie die Möglichkeit, ohne Aufsicht der Eltern Zeit allein zu verbringen. Sie verabredete sich mit Freundinnen und nahm «Klein Mohammed» überall mit hin.
In der Klassengemeinschaft war Fatme eine ruhige und zurückhaltende Schülerin, die sich durch vorbildliches Sozialverhalten auszeichnete. Mehrfach wurde sie zur Klassensprecherin gewählt und erledigte ihre Klassendienste konstant, zuverlässig und mit großer Sorgfalt. Je vertrauter ihr eine Schulsituation war, umso kontaktfreudiger zeigte sie sich. Häufig suchte sie das Gespräch mit mir oder anderen Lehrern – allerdings stets nur allein, denn sie hatte Hemmungen, sich vor der ganzen Klasse zu äußern. Wenn ich sie im Unterricht aufforderte, etwas zu sagen,
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