Doktor Faustus
unternahm, die der Basler Kammerchor in der Martinskirche veranstaltete, und bei denen Kretzschmar den Orgelpart versehen sollte. Man hörte Monteverdis Magnificat, Orgelstudien von Frescobaldi, ein Oratorium von Carissimi und eine Cantate Buxtehudes. Der Eindruck dieser »Musica riservata« auf Leverkühn, einer Affektmusik, die als Rückschlag auf den Konstruktivismus der Niederländer das Bibelwort mit erstaunlicher menschlicher Freiheit, deklamatorischer Ausdruckskühnheit {260} behandelte und es mit einer rücksichtslos schildernden instrumentalen Gestik umkleidete, – dieser Eindruck war sehr stark und nachhaltig; viel sprach er mir damals brieflich und mündlich von dieser bei Monteverdi hervorbrechenden Modernität der musikalischen Mittel, saß auch viel danach in der Leipziger Bibliothek und exzerpierte Carissimis »Jephte« und die »Psalmen Davids« von Schütz. Wer wollte in der quasi-geistlichen Musik seiner späteren Jahre, der Apokalypse und dem Dr. Faustus, den stilistischen Einfluß jenes Madrigalismus verkennen? Das Element eines zum Äußersten gehenden Ausdruckswillens war immer herrschend in ihm, zusammen mit der intellektuellen Leidenschaft für herbe Ordnung, das niederländisch Lineare. Mit anderen Worten: Hitze und Kälte walteten neben einander in seinem Werk, und zuweilen, in den genialsten Augenblicken, schlugen sie ineinander, das Espressivo ergriff den strikten Kontrapunkt, das Objektive rötete sich von Gefühl, so daß man den Eindruck einer glühenden Konstruktion hatte, die mir, wie nichts anderes, die Idee des Dämonischen nahebrachte und mich stets an den feurigen Riß erinnerte, welchen der Sage nach ein Jemand dem zagenden Baumeister des Kölner Doms in den Sand zeichnete.
Der Zusammenhang von Adrians erster Reise in die Schweiz mit der früheren nach Sylt bestand aber in Folgendem. Das kulturell so regsame und unbeschränkte kleine Land hatte und hat einen Tonkünstler-Verein, zu dessen Veranstaltungen sogenannte Orchester-Leseproben, Lectures d'Orchestre, gehören, – das heißt: der die Jury abgebende Vorstand ließ jungen Komponisten von einem der Symphonie-Orchester des Landes und seinem Dirigenten ihre Werke mit Ausschluß der Öffentlichkeit und nur mit Zulassung von Fachleuten im Probespiel vorführen, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Schöpfungen abzuhören, Erfahrungen zu sammeln, ihre Phantasie von der Klangwirklichkeit belehren zu lassen. Eine solche Lesung wur {261} de eben, fast gleichzeitig mit dem Basler Konzert, in Genf, durch das Orchestre de la Suisse Romande abgehalten, und durch seine Verbindungen war es Wendell Kretzschmar gelungen, Adrians »Meerleuchten« – das Werk eines jungen Deutschen, das war eine Ausnahme – auf das Programm setzen zu lassen. Für Adrian war es eine vollkommene Überraschung; Kretzschmar hatte sich den Spaß gemacht, ihn im Dunkeln zu lassen. Er ahnte sogar noch nichts, als er mit seinem Lehrer von Basel nach Genf zum Probespiel fuhr. Und dann erklang unter Herrn Ansermets Stabe seine »Wurzelbehandlung«, dieses Stück nächtlich funkelnden Impressionismus, das er selber nicht ernst nahm, schon beim Schreiben nicht ernst genommen hatte, und bei dessen kritischer Aufführung er auf Kohlen saß. Sich von der Hörerschaft mit einer Leistung identifiziert zu wissen, über die er innerlich hinaus ist, und die für ihn nur ein Spiel mit etwas Ungeglaubtem war, ist für den Künstler eine komische Qual. Gottlob waren Beifalls- und Mißfallenskundgebungen bei diesen Darbietungen ausgeschlossen. Privat nahm er Lobsprüche, Beanstandungen, Fehlernachweise, Ratschläge auf französisch und deutsch entgegen, indem er den Entzückten so wenig wie den Unzufriedenen widersprach. Übrigens stimmte er auch niemandem zu. Etwa eine Woche oder zehn Tage blieb er mit Kretzschmar in Genf, Basel und Zürich und kam mit den Künstler-Zirkeln dieser Städte in flüchtige Berührung. Viel Freude wird man nicht an ihm gehabt – nicht eben viel mit ihm anzufangen gewußt haben, wenigstens nicht, soweit man Anspruch auf Harmlosigkeit, Expansivität, kameradschaftliche Ausgiebigkeit erhob. Einzelne, hie und dort, mögen von seiner Scheuheit, der Einsamkeit, die ihn umhüllte, der hohen Schwierigkeit seiner Existenz verständnisvoll berührt gewesen sein, – vielmehr, ich weiß, daß das vorkam, und finde es einleuchtend. Meiner Erfahrung nach gibt es in der Schweiz viel Sinn für das Leiden, viel Wissen {262} darum, welches überdies, mehr als
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