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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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ob bei dem heutigen Stande unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis, unseres Wahrheitssinnes dieses Spiel noch erlaubt, noch geistig möglich, noch ernst zu nehmen ist, ob das Werk als solches, das selbstgenügsam und harmonisch in sich geschlossene Gebilde, noch in irgend einer legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der schönste, und gerade der schönste, heute zur
Lüge
geworden ist.
    Es fragt sich dies, sage ich, das heißt: ich lernte, mich so zu fragen durch den Umgang mit Adrian, dessen Scharfblick oder, wenn man das Wort bilden darf, Scharfgefühl in diesen Dingen von letzter Unbestechlichkeit war. Meiner eigenen Gutmütigkeit lagen von Hause aus Einsichten fern, wie er sie gesprächsweise, als hingeworfene Aperçus, äußerte, und sie taten mir weh, – nicht um meiner verletzten Gutmütigkeit, sondern um seinetwillen; sie schmerzten, bedrückten, ängstigten mich, weil ich gefährliche Erschwerungen seines Daseins, lähmende Inhibitionen bei der Entfaltung seiner Gaben darin erblickte. Ich habe ihn sagen hören:
    »Das Werk! Es ist Trug. Es ist etwas, wovon der Bürger möchte, es gäbe das noch. Es ist gegen die Wahrheit und gegen den Ernst. Echt und ernst ist allein das ganz Kurze, der höchst konsistente musikalische Augenblick …«
    Wie hätte mich das nicht bekümmern sollen, da ich doch wußte, daß er selbst auf das Werk aspirierte, die Komposition einer Oper plante!
    {265} Ich habe ihn ebenso sagen hören:
    »Schein und Spiel haben heute schon das Gewissen der Kunst gegen sich. Sie will aufhören, Schein und Spiel zu sein, sie will Erkenntnis werden.«
    Was aber aufhört mit seiner Definition übereinzustimmen, hört das nicht überhaupt auf? Und wie will Kunst als Erkenntnis leben? Ich erinnerte mich an das, was er aus Halle über die Ausdehnung des Reiches des Banalen an Kretzschmar geschrieben hatte. Dieser hatte sich dadurch nicht im Glauben an die Berufung seines Schülers erschüttern lassen. Aber diese neueren, gegen Schein und Spiel, das heißt: gegen die Form selbst gerichteten Aufstellungen schienen auf eine solche Erweiterung des Reichs des Banalen, nicht mehr Zulässigen zu deuten, daß es die Kunst überhaupt zu verschlingen drohte. Mit tiefer Sorge fragte ich mich, welche Anstrengungen, intellektuellen Tricks, Indirektheiten und Ironien nötig sein würden, sie zu retten, sie wiederzuerobern und zu einem Werk zu gelangen, das als Travestie der Unschuld den Zustand der Erkenntnis einbekannte, dem es abgewonnen sein würde!
    Mein armer Freund hat sich eines Tages, eines Nachts vielmehr, aus fürchterlichem Munde, von einem entsetzlichen Helfer über das hier Angedeutete Genaueres sagen lassen. Das Protokoll darüber liegt vor, und an seinem Ort werde ich es mitteilen. Mir hat es den instinktiven Schrecken, den Adrians Äußerungen mir damals erregten, erst recht erläutert und verdeutlicht. Was ich aber oben die »Travestie der Unschuld« nannte, – wie oft tat sich das von frühan in seiner Produktion so eigentümlich hervor! Es gibt darin, auf entwickeltster musikalischer Stufe, vor einem Hintergrund äußerster Spannungen, »Banalitäten« – natürlich nicht im sentimentalen Sinn oder in dem schwunghafter Gefälligkeit, sondern Banalitäten im Sinn eines technischen Primitivismus, Naivitäten oder Scheinnaivitäten also, die Meister Kretzschmar dem ungewöhnlichen {266} Zögling schmunzelnd durchgehen ließ: gewiß weil er sie nicht als Naivitäten ersten Grades, wenn ich mich so ausdrücken darf, sondern als ein Jenseits von Neu und Abgeschmackt, als Kühnheiten im Gewande des Anfänglichen verstand. Nur so sind auch die dreizehn Brentano-Gesänge zu begreifen, denen ich, bevor ich diesen Abschnitt schließe, durchaus noch ein Wort widmen muß und die oft wie eine Verspottung zugleich und eine Verherrlichung des Fundamentalen, eine schmerzlich erinnerungsvolle Ironisierung der Tonalität, des temperierten Systems, der traditionellen Musik selber wirken.
    Daß Adrian in diesen Leipziger Jahren die Liederkomposition so eifrig pflegte, geschah zweifellos, weil er die lyrische Vermählung der Musik mit dem Wort als eine Vorbereitung auf die dramatische betrachtete, die er im Sinne hatte. Wahrscheinlich hing es aber auch mit den Skrupeln zusammen, die sein Geist wegen des Schicksals, der historischen Lage der Kunst selbst, des autonomen Werkes hegte. Er bezweifelte

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