Doktor Faustus
das mit anfechtbarer Breite ausgeführte Portrait Rüdiger Schildknapps schließt, – so frage ich mich mit Recht, ob so krause Elemente eigentlich eine Kapitel-Einheit zu bilden imstande sind. Aber erinnere ich mich nicht, daß ich mir das Verfehlen eines beherrschten und regelmäßigen Aufbaus von Anfang an bei dieser Arbeit zum Vorwurf machen mußte? Auch meine Entschuldigung ist immer dieselbe. Mein Gegenstand steht mir zu nahe. Allzu sehr fehlt es hier wohl überhaupt an dem Gegensatz, dem bloßen Unterschied von Stoff und Gestalter. Habe ich nicht mehr als einmal gesagt, daß das Leben, von dem ich handle, mir näher, teurer, erregender war, als mein eigenes? Das Nächste, Erregendste, Eigenste ist kein »Stoff«; es ist die
Person
– und nicht danach angetan, eine künstlerische Gliederung von ihr zu empfangen. Fern sei es von mir, den Ernst der Kunst zu leugnen; aber wenn es ernst wird, verschmäht man die Kunst und ist ihrer nicht fähig. Ich kann nur wiederholen, daß Paragraphen und Sternchen in diesem Buche ein reines Zugeständnis an die Augen des {258} Lesers sind, und daß ich, wenn es nach mir ginge, das Ganze in einem Zuge und Atem, ohne jede Einteilung, ja ohne Einrückung und Absatz herunterschreiben würde. Ich habe nur nicht den Mut, ein so rücksichtsloses Druckwerk der lesenden Welt vor Augen zu bringen.
***
Da ich ein Jahr mit Adrian in Leipzig verlebte, weiß ich auch, wie er die übrigen drei seines Aufenthaltes dort zubrachte: der Konservatismus seiner Lebensweise lehrt es mich, der oft wie Starrheit anmutete und für mich etwas Bedrückliches haben konnte. Nicht umsonst hatte er in jenem Brief seine Sympathie für das »Nichts-wissen-wollen«, die Abenteuerlosigkeit Chopins ausgedrückt. Auch er wollte nichts wissen, nichts sehen, eigentlich nichts erleben, wenigstens nicht im manifesten, äußerlichen Sinn des Wortes; auf Abwechslung, neue Sinneseindrücke, Zerstreuung, Erholung war er nicht aus, und was besonders diese, die Erholung betrifft, so machte er sich gern über all die Leute lustig, die sich beständig erholen, bräunen und stärken – und niemand wisse, wozu. »Erholung«, sagte er, »ist für die, denen sie zu garnichts taugt.« Sehr wenig lag ihm am Reisen zum Zweck des Schauens, des Aufnehmens, der »Bildung«. Er war ein Verächter der Augenlust, und so sensitiv sein Gehör war, so wenig hatte es ihn von jeher gedrängt, sein Auge an den Gestaltungen der bildenden Kunst zu schulen. Die Unterscheidung zwischen den Typen des Augen- und des Ohrenmenschen hieß er gut und unumstößlich richtig und rechnete sich entschieden zu dem zweiten. Was mich betrifft, so habe ich diese Einteilung nie für reinlich durchführbar gehalten und ihm persönlich die Verschlossenheit und Unwilligkeit des Auges nie recht geglaubt. Zwar sagt auch Goethe, daß die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres sei, das von außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedürfe. Aber es gibt ja ein inneres Gesicht, gibt die {259} Vision, die etwas anderes ist und mehr umfaßt, als das bloße Sehen. Und außerdem liegt ein tiefer Widerspruch darin, daß ein Mensch sollte für das menschliche Auge, das doch eben nur dem Auge erglänzt, einen Sinn haben, wie Leverkühn, und dabei die Perception der Welt durch dieses Organ wirklich ablehnen. Ich brauche nur die Namen Marie
Godeau
, Rudi
Schwerdtfeger
und Nepomuk
Schneidewein
zu nennen, um mir Adrians Empfänglichkeit, ja Schwäche für den Zauber des Auges, des schwarzen, des blauen, zu vergegenwärtigen, – wobei ich mir natürlich klar darüber bin, daß es ein Fehler ist, den Leser mit Namen zu bombardieren, mit denen er noch nicht das Geringste anzufangen weiß, und deren Verkörperung noch in weitem Felde steht, – ein Fehler, dessen grobe Offenkundigkeit auf seine Freiwilligkeit schließen lassen mag. Aber was, freilich, heißt auch wieder freiwillig! Ich bin mir wohl bewußt, diese leer-verfrühten Namen unter einem Zwange hierher gesetzt zu haben. –
Adrians Reise nach Graz, die nicht um des Reisens willen geschah, war eine Durchbrechung der Gleichmäßigkeit seines Lebens. Eine andere war die mit Schildknapp unternommene Fahrt ans Meer, als deren Frucht man jenes einsätzige symphonische Klanggebilde ansprechen kann. Damit nun wieder hing die dritte dieser Ausnahmen zusammen: eine Reise nach Basel, die er in Gesellschaft seines Lehrers Kretzschmar zur Teilnahme an Aufführungen sakraler Musik des Barock
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