Doktor Faustus
die Form als Schein und Spiel, – so mochte ihm die kleine und lyrische Form des Liedes noch als die annehmbarste, ernsteste, wahrste gelten; sie mochte ihm seine theoretische Forderung gedrängter Kürze am ehesten zu erfüllen scheinen. Dabei sind nicht nur mehrere dieser Gesänge, wie gleich das »O lieb Mädel«mit dem Buchstaben-Symbol, wie ferner die »Hymne«, »Die lustigen Musikanten«, »Der Jäger an den Hirten« und andere, recht umfangreich, sondern Leverkühn wollte sie auch alle zusammen immer als ein Ganzes, also als ein Werk betrachtet und behandelt wissen, das aus einer bestimmten stilistischen Konzeption, einem Grundlaut, der kongenialen Berührung mit einem bestimmten wundersam hoch und tief verträumten Dichtergeist hervorgegangen war, und wollte niemals den Vortrag einzelner Stücke daraus, sondern stets nur die geschlossene zyklische Darbietung zulassen, von dem unsäglich irren und wirren »Eingang« mit den geisterhaften Schlußzeilen:
{267} »O Stern und Blume, Geist und Kleid
Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!«
bis zu dem düster geharnischten und gewaltigen Schlußstück: »Einen kenne ich … Tod so heißt er«, – ein rigoroser Vorbehalt, der der öffentlichen Aufführung Zeit seines Lebens außerordentlich im Wege war, besonders da eines der Lieder, »Die lustigen Musikanten«, für ein ganzes Quintett von Stimmen, Mutter, Tochter, die beiden Brüder und den Knaben, der »früh das Bein gebrochen« hat, geschrieben ist, also für Alt, Sopran, Bariton, Tenor und eine Kinderstimme, die teils im Ensemble, teils einzeln, teils auch im Duett (nämlich der beiden Brüder) diese Nummer 4 des Zyklus vorzutragen haben. Sie war die erste, die Adrian orchestrierte, richtiger: gleich für ein kleines Orchester von Streichern, Holzbläsern und Schlagzeug setzte; denn viel ist in dem seltsamen Gedicht ja die Rede von den Pfeifen, dem Tambourin, den Schellen und Becken, den lustigen Geigentrillern, mit denen die phantastisch-kummervolle kleine Truppe bei Nacht, »wenn uns kein menschlich Auge sieht«, die Liebenden in ihrer Kammer, die trunkenen Gäste, das einsame Mädchen in den Zauberbann ihrer Weisen zieht. Geist und Stimmung des Stückes, das Gespenstisch-Bänkelsängerische, zugleich Liebliche und Gequälte seiner Musik sind einzig. Und doch zögere ich, ihm die Palme zu reichen unter den dreizehn, von denen mehrere die Musik in einem innerlicheren Sinn herausfordern, als dieses im Wort von Musik handelnde, und sich tiefer in ihr erfüllen.
»Großmutter Schlangenköchin« – das ist ein anderes der Lieder, dieses »Maria, wo bist du zur Stube gewesen?«, dieses siebenmalige »Ach weh! Frau Mutter, wie weh!«, das mit unglaublicher Kunst der Einfühlung die traulich-bangste und schaurigste Region des deutschen Volksliedes beschwört. Denn es ist ja so, daß diese wissende, wahre und überkluge Musik um {268} die Volksweise hier immerfort in Schmerzen wirbt. Stets bleibt diese unverwirklicht, ist da und nicht da, klingt fragmentarisch auf, klingt an und verschwindet wieder in einem ihr seelisch fremden musikalischen Stil, aus dem sie sich doch beständig zu gebären sucht. Es ist ein ergreifender künstlerischer Anblick und nicht weniger als ein kulturelles Paradox, wie, in Umkehrung des natürlichen Entwicklungsvorganges, bei dem aus dem Elementaren das Verfeinerte, Geistige wächst, dieses hier die Rolle des Ursprünglichen spielt, dem sich das Einfältige zu entringen strebt.
»Wehet der Sterne
heiliger Sinn
leis durch die Ferne
bis zu mir hin.«
Das ist der fast im Raum verlorene Laut, der kosmische Ozon eines anderen Stückes, worin Geister in goldenen Kähnen den himmlischen See befahren und der klingende Lauf glänzender Lieder sich niederringelt, – hinauf wallt.
»Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
bietet sich tröstend und trauernd die Hand,
sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
alles ist ewig im Innern verwandt.«
Gewiß ganz selten in aller Literatur haben Wort und Klang einander gefunden und bestätigt, wie hier. Es wendet Musik hier ihr Auge auf sich selbst und schaut ihr Wesen an. Dieses sich tröstend und trauernd einander die Hand Bieten der Töne, dieses verwandelnd-verwandt in einander Verwoben- und Verschlungensein aller Dinge, – das ist sie, und Adrian Leverkühn ist ihr jugendlicher Meister. –
Kretzschmar sorgte, noch bevor er Leipzig verließ, um als Erster Kapellmeister ans Stadttheater von Lübeck zu gehen, {269} für die
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