Doktor Faustus
brachte die Oper dort tatsächlich ein Jahr später, schon nach Kriegsausbruch, in einer deutschen Bearbeitung, an der ich nicht unbeteiligt war, zur Aufführung, – mit dem Erfolg, daß während der Vorstellung {383} zwei Drittel des Publikums das Theater verließen, – ganz so, wie es sechs Jahre zuvor in München bei der Première von Debussys »Pelléas und Mélisande« sich ereignet haben soll. Es kam nur zu zwei Wiederholungen, und das Werk sollte vorläufig nicht über die Hansestadt an der Trave hinausdringen. Auch schloß sich die lokale Kritik fast einstimmig dem Urteil der Laien-Hörerschaft an und spöttelte über die »dezimierende Musik«, deren Herr Kretzschmar sich da angenommen. Nur im »Lübischen Börsen-Kurier« sprach ein alter, seither zweifellos längst verstorbener Musikprofessor namens Jimmerthal von einem Justizirrtum, den die Zeit richtigstellen werde, und erklärte in schrullig altfränkisch gesetzten Worten die Oper für ein zukunftshaltiges Werk voll tiefer Musik, deren Autor wohl ein Spötter, dabei aber »ein gottgeistiger Mensch« sei. Diese rührende Wendung, die ich vorher nie gehört oder gelesen hatte, und die mir auch nachher nie wieder vorgekommen ist, machte mir den eigentümlichsten Eindruck, und wie ich sie dem wissenden Kauz, der sich ihrer bediente, nie vergessen habe, so, denke ich, wird sie ihm zu Ehren angerechnet sein von der Nachwelt, die er gegen seine kritisch schlaffen und stumpfen Schreibkollegen als Zeugen beschwor.
Adrian war zu der Zeit, als ich nach Freising kam, mit der Komposition einiger Lieder und Gesänge beschäftigt, deutscher und fremdsprachiger, nämlich englischer. Erstens war er auf William Blake zurückgekommen und hatte ein sehr sonderbares Poem dieses ihm so lieben Autors, »Silent, silent night«, in Töne gesetzt, jenen Vierstropher zu je drei gleichlautend gereimten Versen, deren letzte Gruppe, befremdlich genug lautet:
»But an honest joy
Does itself destroy
For a harlot coy«.
{384} Diesen geheimnisvoll anstößigen Versen nun hatte der Komponist sehr simple Harmonien verliehen, die im Verhältnis zu der Tonsprache des Ganzen – »falscher«, zerrissener, unheimlicher wirkten, als die gewagtesten Spannungen, tatsächlich das Ungeheuerlich werden des Dreiklangs erfahren ließen. – »Silent, silent night« ist für Klavier und Singstimme gesetzt. Dagegen hatte Adrian zwei Hymnen von Keats, die achtstrophige »Ode to a nightingale« und die kürzere »An die Melancholie« mit einer Begleitung von Streichquartett versehen, die nun freilich den Begriff der Begleitung in seiner Herkömmlichkeit weit hinter und unter sich ließ. Denn in Wahrheit handelte es sich um eine äußerst kunstvolle Form der Variation, in welcher kein Ton der Singstimme und der vier Instrumente unthematisch war. Ohne Unterbrechung herrscht hier zwischen den Stimmen die engste Beziehung, so daß das Verhältnis nicht das von Melodie und Begleitung, sondern in aller Strenge das von stetig alternierenden Haupt- und Nebenstimmen ist.
Es sind herrliche Stücke – und fast stumm geblieben bis heute durch Schuld der Sprache. Zum Lächeln merkwürdig war mir dabei der tiefe Ausdruck, womit der Komponist in der »Nightingale« auf das Verlangen nach südlicher Lebenssüße eingeht, das der Gesang des »immortal bird« in der Seele des Dichters wachruft, – wo doch Adrian in Italien nie viel enthusiastische Dankbarkeit an den Tag gelegt hatte für die Tröstungen einer Sonnenwelt, welche vergessen läßt – »The weariness, the fever, and the fret – Here, where men sit and hear each other groan«. Das musikalisch Kostbarste und Kunstvollste, ohne Zweifel, ist die Auflösung und das Verwehen des Traumes am Schluß, dieses
»Adieu! the fancy cannot cheat so well
As she is fame'd to do, deceiving elf.
{385} Adieu! adieu! thy plaintive anthem fades
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Fled is that music: – Do I wake or sleep?«
Ich kann die Herausforderung wohl verstehen, die von der vasenhaften Schönheit dieser Oden auf die Musik ausgegangen war, sie zu umkränzen: nicht, um sie vollkommener zu machen – denn sie sind vollkommen –, sondern um ihre stolze, schwermutsvolle Anmut stärker zu artikulieren und ins Relief zu treiben, dem kostbaren Augenblick ihrer Einzelheiten vollere Dauer zu verleihen, als dem gehauchten Wort gegönnt ist: solchen Augenblicken gedrängter
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