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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Nebelflecke befänden. Offenbar strebten sie von uns weg, und bei den am weitesten, um 150 Millionen Lichtjahre, abliegenden Komplexen komme die Geschwindigkeit, mit der sie das täten, derjenigen gleich, die die Alpha-Teilchen radioaktiver Substanzen entwickelten, und die 25000 Kilometer in der Sekunde betrage, eine Schnellkraft, gegen die der Splitterflug einer krepierenden Granate ein Schneckentempo anneh {397} me. Wenn also alle Milchstraßensysteme in übertriebenstem Zeitmaß von einander wegjagten, so reiche das Wort »Explosion« gerade eben noch, oder auch schon längst nicht mehr, hin, den Zustand des Weltmodells und seine Art von Ausgedehntheit zu bezeichnen. Diese mochte früher einmal statisch gewesen sein und einfach eine Milliarde Lichtjahre im Durchmesser betragen haben. Wie die Dinge jetzt lägen, könne zwar von Ausdehnung, aber nicht von irgend welcher stehenden Ausgedehntheit, »endlich« oder »unendlich«, die Rede sein. Alles, was, wie es schien, Capercailzie dem Frager hatte zusichern können, war, daß die Summe sämtlicher überhaupt vorhandenen Milchstraßenbildungen in der Größenordnung von hundert Milliarden liege, von denen nur eine geringe Million unseren heutigen Fernrohren erreichbar sei.
    So Adrian, rauchend und lächelnd. Ich redete ihm nun ins Gewissen und verlangte von ihm das Eingeständnis, daß dieser ganze ins Nichts entweichende Zahlenspuk unmöglich das Gefühl von Gottes Herrlichkeit erregen, irgend welche sittliche Erhebung schenken könne. Nach einem Teufelsjux viel eher sähe das alles ja aus.
    »Gib zu«, sagte ich ihm, »daß die Horrendheiten der physikalischen Schöpfung auf keine Weise religiös produktiv sind. Welche Ehrfurcht und welche der Ehrfurcht entstammende Sittigung des Gemütes kann ausgehen von der Vorstellung eines unermeßlichen Unfugs, wie des explodierenden Weltalls? Absolut keine. Frömmigkeit, Ehrfurcht, seelischer Anstand, Religiosität sind nur über den Menschen und durch den Menschen, in der Beschränkung auf das Irdisch-Menschliche möglich. Ihre Frucht sollte, kann und wird ein religiös tingierter Humanismus sein, bestimmt von dem Gefühl für das transzendente Geheimnis des Menschen, von dem stolzen Bewußtsein, daß er kein bloß biologisches Wesen ist, sondern mit einem entscheidenden Teil seines Wesens einer geistigen Welt {398} angehört; daß ihm das Absolute gegeben ist, die Gedanken der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, daß ihm die Verpflichtung auferlegt ist zur Annäherung an das Vollkommene. In diesem Pathos, dieser Verpflichtung, dieser Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst ist Gott; in hundert Milliarden Milchstraßen kann ich ihn nicht finden.«
    »So bist du gegen die Werke«, antwortete er, »und gegen die physische Natur, der der Mensch entstammt und mit ihm sein Geistiges, das sich am Ende auch noch an anderen Orten des Kosmos findet. Die physische Schöpfung, dieses dir ärgerliche Ungeheuer von Weltveranstaltung, ist unstreitig die Voraussetzung für das Moralische, ohne die es keinen Boden hätte, und vielleicht muß man das Gute die Blüte des Bösen nennen – une fleur du mal. Dein Homo Dei ist doch schließlich – oder nicht schließlich, ich bitte um Entschuldigung, aber vor allem einmal, ein Stück scheußlicher Natur – mit einem nicht gerade freigebig zugemessenen Quantum potentieller Vergeistigung. Übrigens ist es amüsant, zu sehen, wie sehr dein Humanismus, und wohl aller Humanismus, zum Mittelalterlich-Geozentrischen neigt, – mit Notwendigkeit offenbar. Populärer Weise hält man den Humanismus für wissenschaftsfreundlich; aber er kann es nicht sein, denn man kann nicht die Gegenstände der Wissenschaft für Teufelswerk erachten, ohne auch in ihr selbst dergleichen zu sehen. Das ist Mittelalter. Das Mittelalter war geozentrisch und anthropozentrisch. Die Kirche, in der es überlebte, hat sich gegen die astronomischen Erkenntnisse im humanistischen Geist zur Wehr gesetzt, hat sie verteufelt und verboten zu Ehren des Menschen, hat auf Unwissenheit bestanden aus Humanität. Du siehst, dein Humanismus ist reines Mittelalter. Seine Sache ist eine Kaisersascherner Kirchturmskosmologie, die zur Astrologie, zur Beachtung des Planetenstandes, der Konstellation und ihrer glücklichen oder verderblichen Ansagen führt, – ganz natürlich und mit Recht; denn {399} die intime Abhängigkeit der Körper einer so eng zusammengehörigen kosmischen Winkelgruppe, wie unseres Sonnensystems, von einander,

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