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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Gottesdienstes auf Buchel eintrafen, und ich kann nur sagen, daß ich nie ein Wort von Adrian gehört habe, aus dem sich hätte schließen lassen, sein junger Sinn sei von den Darbietungen jenes Adepten irgendwie berührt gewesen, oder, wenn das nicht gut möglich war, das Phänomen der Musik selbst, als solches, sei ihm überhaupt auffällig geworden. Soviel ich sehe, hat er ihm damals noch, und noch durch Jahre hin, jede Aufmerksamkeit versagt und es vor sich selbst verborgen gehalten, daß er mit der Welt des Klanges irgend etwas zu schaffen habe. Ich sehe darin seelische Zurückhaltung; aber auch eine physiologische Deutung ist wohl heranzuziehen; denn tatsächlich war es um sein vierzehntes Jahr, zur Zeit beginnender Pubeszenz also und des Heraustretens aus dem Stande kindlicher Unschuld, im Hause seines Oheims zu Kaisersaschern, daß er {53} auf eigene Hand begann, mit der Musik pianistisch zu experimentieren. Übrigens war dies auch die Zeit, in der die ererbte Migräne anfing, ihm böse Tage zu machen.
    Die Zukunft seines Bruders Georg war durch seine Eigenschaft als Erbe des Hofes klar gegeben, und von Anbeginn lebte er denn auch in völliger Harmonie mit seiner Bestimmung. Was aus dem Zweitgeborenen werden würde, war für die Eltern eine offene Frage, die sich nach den Neigungen und Fähigkeiten entscheiden mußte, die er an den Tag legen würde; und da war es denn bemerkenswert, wie früh sich in den Köpfen der Seinen und unser aller die Vorstellung festsetzte, daß Adrian ein Gelehrter werden müsse. Welche Art von Gelehrter, das stand noch lange dahin, aber der moralische Gesamthabitus schon des Knaben, seine Art sich auszudrücken, seine formale Bestimmtheit, selbst sein Blick, sein Gesichtsausdruck, ließen zum Beispiel auch meinem Vater nie einen Zweifel daran, daß dieser Sproß am Stamme der Leverkühns zu »etwas Höherem« berufen sei und der erste Studierte seines Geschlechtes sein werde.
    Für die Entstehung und Befestigung dieser Idee war die, fast möchte man sagen: überlegene Leichtigkeit entscheidend, mit der Adrian den Elementar-Schulunterricht absorbierte, den er im Elternhause empfing. Jonathan Leverkühn schickte seine Kinder nicht in die dörfliche Trivialschule. Ich glaube, daß dafür nicht sowohl soziales Selbstbewußtsein, als der ernstliche Wunsch entscheidend war, ihnen eine sorgfältigere Erziehung zuzuwenden, als sie beim Gemeinschaftsunterricht mit den Kätnerkindern von Oberweiler hätten empfangen können. Der Schullehrer, ein noch junger und zarter Mensch, der nie aufhörte, sich vor dem Hunde Suso zu fürchten, kam nachmittags, wenn er seine amtlichen Pflichten erfüllt hatte, im Winter von Thomas mit dem Schlitten geholt, zu ihrem Unterricht nach Buchel herüber und hatte dem dreizehnjährigen Georg {54} beinahe schon alle Kenntnisse beigebracht, deren dieser als Grundlage zu seiner weiteren Ausbildung bedurfte, als er den Elementarunterricht des im achten Jahre stehenden Adrian in die Hand nahm. Er denn nun aber, Lehrer Michelsen, war der Allererste, laut und mit einer gewissen Aufregung zu erklären, der Junge müsse, »um Gottes willen«, auf das Gymnasium und auf die Universität, denn ein so gelerniger und geschwinder Kopf sei ihm, Michelsen, noch nicht vorgekommen, und eine Schande würde es sein, wenn man nicht alles täte, diesem Schüler den Weg zu den Höhen der Wissenschaft freizulegen. So oder ähnlich, etwas seminaristenhaft jedenfalls, drückte er sich aus und sprach sogar von »ingenium«, teilweise gewiß, um mit dem Worte zu prunken, das sich in bezug auf so anfängliche Leistungen drollig genug ausnahm; aber offenbar kam es ihm aus erstauntem Herzen.
    Ich bin ja bei diesen Unterrichtsstunden niemals zugegen gewesen und weiß davon nur vom Hörensagen, kann mir aber leicht das Verhalten meines Adrian dabei vorstellen, das für einen selbst noch knabenhaften Präzeptor, gewohnt, seinen Lehrstoff unter anspornendem Lobe und desperatem Tadel in lahm bemühten und widerstrebenden Köpfen unterzubringen, zuweilen geradezu etwas Kränkendes gehabt haben muß. »Wenn du alles schon weißt«, höre ich den Jüngling gelegentlich sagen, »so kann ich ja gehen.« Natürlich war es nicht so, daß sein Zögling »alles schon wußte«. Aber seine Gebärde hatte etwas davon, einfach weil hier ein Fall jener raschen, sonderbar souveränen und vorwegnehmenden, ebenso sicheren wie leichten Auffassung und Aneignung vorlag, die bald dem Lehrer das Lob verschlägt, weil er

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