Doktor Faustus
weitläufiges und dennoch enges, von erstickend verbrauchter Luft erfülltes Gefängnis sich öffnet, das heißt: wenn der gegenwärtig tobende Krieg, so oder so, sein Ende gefunden hat, – und wie entsetze ich mich bei diesem So oder so, vor mir selbst und vor der schaurigen Zwangslage, in die das Schicksal das deutsche Gemüt gedrängt! Denn ich habe ja nur eines der beiden »So« im Sinne; nur mit diesem rechne ich und baue darauf, meinem staatsbürgerlichen Gewissen entgegen. Die nimmer rastende öffentliche Belehrung hat ja uns allen die zermalmenden, in ihrer Schrecklichkeit endgültigen Folgen einer deutschen Niederlage tief ins Bewußtsein gesenkt, so daß wir gar nicht umhin können, sie mehr zu fürchten, als alles auf der Welt. Dennoch gibt es etwas, was einige von uns in Augenblicken, die ihnen selbst als verbrecherisch erscheinen, andere aber sogar frank und permanent, mehr fürchten als die deutsche Niederlage, und das ist der deutsche Sieg. Ich wage kaum, mich zu fragen, zu welcher dieser beiden Kategorien ich gehöre. Vielleicht zu einer dritten, in der man die Niederlage zwar dauernd und klaren Bewußtseins, aber auch eben unter dauernden Gewissensqualen ersehnt. Mein Wünschen und Hoffen ist genötigt, sich dem Siege der deutschen Waffen entgegenzustemmen, weil unter ihm das Werk meines Freundes begraben werden, der Bann des Verbotes und der Vergessenheit {51} vielleicht für hundert Jahre es bedecken würde, so daß es seine eigene Zeit versäumte und nur in einer späteren historische Ehren empfangen würde. Das ist das besondere Motiv meines Verbrechertums, und ich teile dieses Motiv mit einer zerstreuten Anzahl von Menschen, die bequem an den Fingern beider Hände herzuzählen sind. Aber meine Seelenlage ist nur eine spezielle Abwandlung derjenigen, die, Fälle von übergroßer Stupidität und gemeinem Interesse ausgenommen, unserem ganzen Volke zum Schicksal geworden ist, und ich bin nicht frei von der Neigung, für dieses Schicksal eine besondere, nie dagewesene Tragik in Anspruch zu nehmen, obgleich ich weiß, daß es auch anderen Nationen schon auferlegt war, um ihrer eigenen und der allgemeinen Zukunft willen die Niederlage ihres Staates zu wünschen. Aber bei der Biederkeit, der Gläubigkeit, dem Treue- und Ergebenheitsbedürfnis des deutschen Charakters möchte ich doch wahrhaben, daß das Dilemma in unserem Falle eine einzigartige Zuspitzung erfährt, und kann mich tiefen Ingrimms nicht erwehren gegen diejenigen, die ein so gutes Volk in eine seelische Lage brachten, die ihm meiner Überzeugung nach schwerer fällt als jedem anderen, und es sich selber heillos entfremdet. Ich brauche mir nur vorzustellen, daß meine Söhne durch irgend einen unglücklichen Zufall mit diesen meinen Aufzeichnungen bekannt würden und also genötigt wären, mich in spartanischer Verleugnung jeder weichlichen Rücksicht der Geheimen Staatspolizei anzuzeigen, – um, geradezu mit einer Art von patriotischem Stolz, die Abgründigkeit des Konfliktes zu ermessen, in den wir geraten sind.
Vollkommen bin ich mir bewußt, mit obigem auch diesen neuen Abschnitt schon wieder, den ich doch kürzer zu halten gedachte, bedenklich vorbelastet zu haben, wobei ich nicht den psychologischen Verdacht unterdrücke, daß ich nach Verzögerungen und Umschweifen geradezu suche, oder doch die {52} Gelegenheit dazu mit heimlicher Bereitwilligkeit wahrnehme, weil ich mich vor dem Kommenden
fürchte
. Ich lege vor dem Leser einen Beweis meiner Ehrlichkeit ab, indem ich der Vermutung Raum gebe, daß ich Umstände mache, weil ich insgeheim vor der Aufgabe zurückschrecke, die ich, getrieben von Pflicht und Liebe, in Angriff genommen. Aber nichts, auch die eigene Schwäche nicht, soll mich hindern, in ihrer Erfüllung fortzufahren, – indem ich denn also an die Bemerkung wieder anknüpfe, daß es unser Kanonsingen mit der Stall-Hanne war, wodurch Adrian meines Wissens zuerst mit der Sphäre der Musik in Berührung gebracht wurde. Freilich ist mir bekannt, daß er als heranwachsender Knabe auch mit seinen Eltern an dem sonntäglichen Gottesdienst in der Dorfkirche von Oberweiler teilnahm, zu welchem ein junger Musikschüler aus Weißenfels herüberzukommen pflegte, um dem Gemeindegesang auf der kleinen Orgel zu präludieren, ihn zu begleiten und auch den Auszug der Andächtigen aus der Kirche noch mit zaghaften Improvisationen zu begehen. Aber dabei war ich fast niemals zugegen, da wir allermeist erst nach Beendigung des
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