Doktor Faustus
Jugend hinter ihr her war, und sie sie mit keifenden Flüchen in die Flucht trieb, ein archaisches Grauen anwandeln konnte, obgleich bestimmt nichts Unrechtes an ihr war.
Hier ein ungescheutes Wort, das aus den Erfahrungen unserer Tage kommt. Für den Freund der Aufhellung behalten Wort und Begriff des »Volkes« selbst immer etwas Archaisch-Apprehensives, und er weiß, daß man die Menge nur als »Volk« anzureden braucht, wenn man sie zum Rückständig-Bösen verleiten will. Was ist vor unseren Augen, oder auch nicht just vor unseren Augen, im Namen des »Volkes« nicht alles geschehen, was im Namen Gottes, oder der Menschheit, oder des Rechtes nicht wohl hätte geschehen können! – Tatsache nun aber ist, daß wirklich Volk immer Volk bleibt, wenigstens in einer bestimmten Schicht seines Wesens, eben der archaischen, und daß Leute und Nachbarn vom Kleinen Gelbgießer-Gang, die am Wahltage einen sozialdemokratischen Stimmzettel abgaben, gleichzeitig imstande waren, in der Armut eines Mütterchens, das sich keine oberirdische Wohnung leisten konnte, {60} etwas Dämonisches zu sehen, und bei ihrer Annäherung nach ihren Kindern zu greifen, um sie vor dem bösen Blick der Hexe zu schützen. Müßte ein solches Weib wieder brennen, wie es bei leichten Veränderungen in der Begründung heute keineswegs mehr aus dem Bereich des Denkbaren fällt, sie würden hinter den vom Magistrat errichteten Schranken stehen und gaffen, wahrscheinlich aber nicht revoltieren. – Ich spreche vom Volk, aber die altertümlich-volkstümliche Schicht gibt es in uns allen, und, um ganz zu reden, wie ich denke: ich halte die Religion nicht für das adäquateste Mittel, sie unter sicherem Verschluß zu halten. Dazu hilft nach meiner Meinung allein die Literatur, die humanistische Wissenschaft, das Ideal des freien und schönen Menschen.
Um auf jene Sonderlingstypen von Kaisersaschern zurückzukommen, so war da etwa noch ein Mann unbestimmten Alters, der bei jedem plötzlichen Ruf eine Art von zuckendem Tanz mit hochgezogenem Bein auszuführen gezwungen war und mit einem traurig-häßlichen Ausdruck, als bäte er um Entschuldigung, den Gassenkindern zulächelte, die ihn johlend verfolgten. – Ferner eine kostümlich ganz aus der Zeit fallende Person namens Mathilde Spiegel, mit rüschenbesetztem Schleppkleid und »Fladus'« – ein lächerliches Wort, worin das französische flûte douce verderbt ist, und das eigentlich wohl »Schmeichelei« bedeutet, hier aber eine sonderbare Lockenfrisur nebst Kopfputz bezeichnete –, ein Frauenzimmer, das geschminkt, aber fern von Unsittlichkeit, entschieden zu närrisch dazu, begleitet von Möpsen in Atlasschabracken, in irrer Hochnäsigkeit die Stadt durchwanderte. – Ein Kleinrentner endlich mit purpurner Warzennase und dickem Siegelring am Zeigefinger, eigentlich Schnalle mit Namen, von den Kindern jedoch »Tüdelüt« gerufen, weil er den Tick hatte, diesen sinnlos trällernden Laut jedem Wort, das er sprach, hinzuzufügen. Gern ging er auf den Bahnhof und warnte, wenn ein {61} Güterzug abging, den Mann, der auf dem rückwärtigen Dachsitz des letzten Wagens saß, mit erhobenem Siegelfinger: »Fallen Sie da nicht runter, fallen Sie da nicht runter, tüdelüt!«
Ich bin nicht ohne ein Gefühl des Unwürdigen, indem ich diese skurrilen Erinnerungen hier einschalte; aber die aufgeführten Figuren, öffentliche Einrichtungen sozusagen, waren so ungemein charakteristisch für das psychische Bild unserer Stadt, Adrians Lebensrahmen bis zu seinem Abgange auf die Universität, neun Jugendjahre, die auch die meinen waren, und die ich an seiner Seite verbrachte; denn obgleich ich ihm, meinem Alter gemäß, um zwei Klassen voran war, hielten wir uns in den Unterrichtspausen auf dem ummauerten Hofe meist abgesondert von unseren beiderseitigen Kameraden zusammen, sahen einander auch nachmittags auf unseren Schülerstübchen, sei es, daß er in die Apotheke »Zu den Seligen Boten« herüberkam, oder daß ich ihn im Hause seines Oheims, Parochialstraße 15, besuchte, dessen Mezzanin von dem weitbekannten Leverkühn'schen Musikinstrumentenlager eingenommen war.
VII
Es war eine stille Lage, abseits der Geschäftsgegend von Kaisersaschern, der Marktstraße, der Grieskrämerzeile: eine winklige Gasse ohne Trottoir, nahe dem Dom, in der Nikolaus Leverkühns Haus sich als das stattlichste hervortat. Dreistöckig, die Räume des abgesetzten und erkerförmig ausgebauten Daches nicht mitgezählt, war es ein
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