Doktor Faustus
erinnert das alles vielmehr an einen Mann meiner Bekanntschaft, der, obgleich äußerlich robust und bärtig, so zartbesaitet war, daß er, wenn er erkrankte – und er neigte zum Kränkeln – nur von einem Kinderspezialisten behandelt sein wollte. Hinzu kam, daß der Doktor, dem er sich anvertraute, so klein von Person war, daß eine Erwachsenenpraxis ihm, ganz wörtlich gesprochen, nicht angemessen gewesen wäre und er eben nur Kinderarzt hatte werden können.
Es scheint mir ratsam, selbst festzustellen, daß diese Anekdote von dem Mann mit dem Kinderarzt insofern eine Abschweifung darstellt, als weder der eine noch der andere in {46} diesen Aufzeichnungen überhaupt je wieder vorkommen wird. Wenn das ein Fehler ist, und wenn es zweifellos schon ein Fehler war, daß ich, der Neigung zum Vorgreifen erliegend, schon hier auf Pfeiffering und die Schweigestills zu sprechen kam, so bitte ich den Leser, solche Unregelmäßigkeiten der Aufregung zugute zu halten, die mich seit dem Beginn dieses biographischen Unternehmens – und zwar nicht nur während der Stunden des Schreibens – beherrscht. Ich arbeite jetzt doch schon eine Reihe von Tagen an diesen Blättern, aber daß ich meine Sätze im Gleichgewicht zu halten und meinen Gedanken einen geziemenden Ausdruck zu finden suche, möge den Leser nicht darüber täuschen, daß ich mich in einem Zustande dauernder Aufregung befinde, die sich sogar in einem Zittern meiner gewöhnlich noch durchaus festen Handschrift äußert. Übrigens glaube ich nicht nur, daß, die mich lesen, diese seelische Erschütterung mit der Zeit begreifen werden, sondern auch, daß sie ihnen selbst auf die Dauer nicht fremd bleiben wird.
Zu erwähnen vergaß ich, daß es auf dem Hofe der Schweigestills, Adrians späterem Aufenthaltsort, gewiß nicht überraschenderweise, auch eine Stallmagd mit Waberbusen und emsig mistigen Barfüßen gab, die der Hanne von Buchel so ähnlich sah, wie eben eine Stallmagd der andern ähnlich sieht, und die im Wiederholungsfalle Waltpurgis hieß. Nicht von ihr spreche ich hier, sondern von ihrem Urbilde Hanne, mit der der kleine Adrian darum auf freundschaftlichem Fuße stand, weil sie zu singen liebte und mit uns Kindern kleine Gesangsübungen zu veranstalten pflegte. Eigentümlich genug: wessen die schönstimmige Elsbeth Leverkühn aus einer Art von Keuschheit sich enthielt, damit ging dieses tierisch duftende Geschöpf höchst frei heraus und sang uns, zwar mit plärrender Stimme, aber gutem Gehör, abends auf der Bank unter der Linde allerlei Volks-, Soldaten- und auch Gassenlieder, meist gefühlstriefen {47} den oder grausigen Charakters vor, deren Worte und Melodien wir uns bald zu eigen machten. Sangen wir dann mit, so fiel sie in die Terz, aus der sie, wie es sich traf, in die Unterquint und Untersext sprang, und überließ uns die Oberstimme, indem sie sehr ostentativ und ohrenfällig die zweite behauptete. Dabei pflegte sie, wahrscheinlich um uns zur rechten Würdigung des harmonischen Vergnügens aufzufordern, ganz ähnlich lachend das Gesicht in die Breite zu ziehen, wie Suso, wenn man ihm sein Essen verabfolgte.
Mit »wir« meine ich Adrian, mich und Georg, der schon dreizehn war, als sein Bruder und ich acht und zehn Jahre zählten. Schwesterchen Ursel war immer zu klein für die Teilnahme an diesen Exerzitien, aber auch von uns vier Sängern schon war gewissermaßen einer überzählig bei der Art von Vokal-Musik, zu der die Stall-Hanne unser Zusammen-darauf-los-Singen zu erheben wußte. Sie lehrte uns nämlich Kanons, – die kinderüblichsten natürlich: »O, wie wohl ist mir am Abend«, »Es tönen die Lieder« und den vom Kuckuck und dem Esel, und die Dämmerstunden, in denen wir uns daran vergnügten, sind mir darum in bedeutender Erinnerung geblieben – oder vielmehr, die Erinnerung daran hat später eine erhöhte Bedeutung angenommen, weil sie es waren, die, soweit meine Zeugenschaft reicht, meinen Freund zuerst mit einer »Musik« von etwas künstlicherer Bewegungs-Organisation in Berührung brachten, als das bloße einhellige Absingen von Liedern sie aufweist. Hier war eine zeitliche Verschränkung, ein nachahmendes Eintreten, zu dem man im gegebenen Augenblick durch einen Rippenstoß der Stall-Hanne aufgefordert wurde, wenn der Gesang schon im Gange war, die Melodie sich bis zu einem gewissen Punkte schon abgespielt hatte, aber bevor sie zu Ende war. Es war hier eine verschieden gelagerte Präsenz der melodischen Bestandteile,
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