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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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fühlt, daß ein solcher Kopf eine Gefahr für die Bescheidenheit des Herzens bedeutet und es gar leicht zur Hoffart verführt. Vom Alphabet bis zur Syntax und Grammatik, von der Zahlenreihe und den vier Spezies bis zum Dreisatz und der einfachen Proportionsrechnung, von dem Memo {55} rieren kleiner Gedichte (es gab da kein Memorieren; die Verse waren sofort mit großer Präzision erfaßt und beherrscht) bis zur schriftlichen Niederlegung eigener Gedankenreihen über Themen aus der Erd- und Heimatkunde, – immer war es dasselbe: Adrian hielt ein Ohr hin, wandte sich ab und gab sich eine Miene, als wollte er sagen: »Ja, gut, soviel ist klar, genug, weiter!« Für das pädagogische Gemüt hat das etwas Revoltierendes. Gewiß war der junge Mann immer wieder versucht, auszurufen: »Was fällt dir ein! Gib dir Mühe!« Aber wie, wenn offensichtlich keine Nötigung vorliegt, sich Mühe zu geben?
    Wie gesagt, habe ich den Lektionen nie beigewohnt; aber ich bin gezwungen, mir vorzustellen, daß mein Freund die wissenschaftlichen Data, die Herr Michelsen ihm überlieferte, grundsätzlich mit derselben, nicht noch einmal zu kennzeichnenden Gebärde aufnahm, mit der er unter dem Lindenbaum die Erfahrung beantwortet hatte, daß neun Takte horizontaler Melodie, wenn sie zu dritt vertikal übereinander zu stehen kommen, einen Körper harmonischer Stimmigkeit ergeben mögen. Sein Lehrer konnte etwas Latein, er brachte es ihm bei und erklärte dann, der Junge – zehn Jahre alt – sei, wenn nicht für die Quarta, so doch für die Quinta reif. Sein Geschäft sei beendet.
    So verließ denn Adrian zu Ostern 1895 sein Elternhaus und kam in die Stadt, um unser Bonifatius-Gymnasium (eigentlich »Schule der Brüder vom gemeinen Leben«) zu besuchen. Ihn in sein Haus aufzunehmen, erklärte sein Onkel, der Bruder seines Vaters, Nikolaus Leverkühn, ein ansehnlicher Bürger von Kaisersaschern, sich bereit.

VI
    Was denn meine Vaterstadt an der Saale betrifft, so sei dem Ausländer bedeutet, daß sie etwas südlich von Halle, gegen das Thüringische hin, gelegen ist. Fast hätte ich gesagt, daß sie dort {56} gelegen
habe
, – denn durch langes Entferntsein von ihr ist sie mir in die Vergangenheit entrückt. Aber ihre Türme erheben sich ja noch immer am selben Platz, und ich wüßte nicht, daß bis jetzt ihr architektonisches Bild durch die Unbilden des Luftkrieges irgendwelchen Schaden gelitten hätte, was um seiner historischen Reize willen auch im höchsten Grade bedauerlich wäre. Mit einer gewissen Gelassenheit füge ich dies hinzu, denn mit einem nicht geringen Teil unserer Bevölkerung, auch der am schwersten betroffenen und heimatlos gemachten, teile ich die Empfindung, daß wir nur empfangen, was wir ausgeteilt haben, und sollten wir schrecklicher büßen, als wir gesündigt haben, so mag uns das Wort in den Ohren klingen, daß, wer da Wind säet, Sturm ernten wird.
    Weder Halle selbst, die Händelstadt, noch Leipzig, die Stadt des Thomas-Kantors, noch Weimar oder selbst Dessau und Magdeburg sind also fern; aber Kaisersaschern, ein Bahnknotenpunkt, ist mit seinen 27000 Einwohnern durchaus sich selbst genug und fühlt sich, wie jede deutsche Stadt, als ein Kulturzentrum von geschichtlicher Eigenwürde. Es nährt sich von verschiedenen Industrien, wie Maschinen, Leder, Spinnereien, Armaturen, Chemikalien und Mühlen, und besitzt zu seinem kulturhistorischen Museum, das eine Kammer mit krassen Folter-Instrumenten aufweist, noch eine sehr schätzenswerte Bibliothek von 25000 Bänden und 5000 Handschriften, darunter zwei allitterierende Zaubersprüche, die von einigen Gelehrten für noch älter erachtet werden als die Merseburger, übrigens recht harmlos nach ihrer Bedeutung, nichts als ein wenig Regenzauber anstrebend, in Fuldaer Mundart. – Die Stadt war Bistum im zehnten Jahrhundert und wiederum vom Anfang des zwölften bis ins vierzehnte. Sie hat Schloß und Dom, und in diesem zeigt man das Grabmal Kaiser Otto's III., Enkels der Adelheid und Sohnes der Theophano, der sich Imperator Romanorum und Saxonicus nannte, aber nicht, weil er {57} ein Sachse sein wollte, sondern im Sinne, wie Scipio den Beinamen Africanus führte, also weil er die Sachsen besiegt hatte. Als er im Jahre 1002 nach seiner Vertreibung aus dem geliebten Rom in Kummer gestorben war, wurden seine Reste nach Deutschland gebracht und im Dom von Kaisersaschern beigesetzt – sehr gegen seinen Geschmack, denn er war das Musterbeispiel deutscher

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