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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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durch die jedoch kein Wirrwarr entstand, sondern in der das Nachsingen der ersten {48} Phrase durch einen zweiten Sänger sich Punkt für Punkt sehr angenehm zu der vom ersten gesungenen Fortsetzung fügte. War aber dieser Erst-Voranschreitende – gesetzt, es handelte sich um das Stück »O, wie wohl ist mir am Abend« – bis zum wiederholten »Glocken läuten« gediehen, und begann er das illustrierende »Bim-bam-bum«, so bildete dieses die Baßbewegung nicht nur zu dem »Wenn zur Ruh'«, bei dem der Zweite sich eben befand, sondern auch zu dem Anfange »O, wie wohl«, mit dem, infolge eines neuen Rippenstoßes, der dritte Sänger in die musikalische Zeit eingetreten war, um darin, wenn er das zweite Stadium der Melodie erreicht hatte, von dem frisch beginnenden ersten abgelöst zu werden, welcher das grundtönig-klangmalerische »Bim-bam-bum« dem zweiten abgetreten hatte – und so fort. Der Part des Vierten von uns fiel notwendig mit dem eines anderen zusammen, doch suchte er die Duplizität dadurch allenfalls aufzumuntern, daß er in der Oktave brummte; oder er begann schon vor dem ersten und sozusagen vor Tage mit dem grundierenden Geläut und betrieb dieses, beziehungsweise das trällernd die vorigen Stadien der Melodie umspielende La-la-la unverdrossen während der ganzen Dauer des Gesanges.
    So aber waren wir denn immer in der Zeit auseinander, während doch die melodische Gegenwart eines jeden sich erfreulich zu der des andern verhielt und, was wir hervorbrachten, ein anmutiges Gewebe, einen Klangkörper bildete, wie der »gleichzeitige« Gesang es nicht war; ein Gefüge, dessen Stimmigkeit wir uns gefallen ließen, ohne ihrer Natur und Ursache weiter nachzufragen. Auch der acht- oder neunjährige Adrian tat das wohl nicht. Oder wollte das kurze, mehr spöttische als erstaunte Auflachen, das er vernehmen ließ, wenn das letzte Bim-bam in den abendlichen Lüften verklungen war, und das ich auch später so gut an ihm kannte, – wollte es besagen, daß er die Machart dieser Liedchen durchschaute, die ja sehr einfach darin {49} besteht, daß der Anfang ihrer Melodie die zweite Stimme zur Sequenz bildet und der dritte Teil beiden als Baß dienen kann? Keiner von uns war sich klar darüber, daß wir uns da, angeleitet von einer Stallmagd, auf einer vergleichsweise schon sehr hohen musikalischen Kulturstufe bewegten, in einem Bereich der imitatorischen Polyphonie, den das 15. Jahrhundert hatte entdecken müssen, um uns unser Vergnügen zu verschaffen. Wenn ich aber an jenes Auflachen Adrians zurückdenke, so finde ich nachträglich, daß es etwas von Wissen und moquanter Eingeweihtheit hatte. Es ist ihm immer geblieben, oft habe ich es später von ihm vernommen, wenn ich an seiner Seite in einem Konzert oder im Theater saß und irgendein Kunst-Trick, ein geistreicher, von der Menge nicht aufgefaßter Vorgang im Innern der musikalischen Struktur, eine feine seelische Anspielung im Dialog des Dramas ihn frappierte. Damals paßte es noch gar nicht zu seinen Jahren, war aber schon ganz dasselbe wie bei dem Erwachsenen. Es war ein leises Ausstoßen der Luft durch Mund und Nase bei gleichzeitigem Zurückwerfen des Kopfes, knapp, kühl, ja geringschätzig, oder höchstens so, als wollte er sagen: »Gut das, drollig, kurios, amüsant!« – Aber seine Augen merkten eigentümlich auf dabei, suchten im Fernen, und ihre metallisch gesprenkelte Dämmerung verschattete sich tiefer.

V
    Auch der eben geschlossene Abschnitt ist für meinen Geschmack viel zu sehr angeschwollen, und nur zu ratsam will es mir scheinen, mich nach der ausharrenden Geduld des Lesers zu fragen. Mir selbst ist jedes Wort brennend interessant, das ich hier schreibe, aber wie sehr muß ich mich davor hüten, dies als Gewähr für die Anteilnahme Unbeteiligter zu betrachten! Allerdings sollte ich auch wieder nicht vergessen, daß ich nicht für den Augenblick und nicht für Leser schreibe, die von Le {50} verkühn noch gar nichts wissen, also auch nicht begehren können, das Nähere über ihn zu erfahren; sondern daß ich diese Mitteilungen vorbereite für einen Zeitpunkt, wo die Voraussetzungen für die öffentliche Aufmerksamkeit ganz andere, – mit Sicherheit kann man sagen: viel günstigere sein werden, die Nachfrage nach den Einzelheiten dieses erschütternden Lebens, wie geschickt oder ungeschickt sie nun immer vorgetragen sein mögen, von unwählerischer Dringlichkeit sein wird.
    Dieser Zeitpunkt wird gekommen sein, wenn unser zwar

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