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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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sollen? Wir gehörten zur Heeresgruppe Hausen, die südlich von Châlons-sur-Marne in vollem Vordringen auf Paris begriffen war, so gut wie anderen Ortes die des von Kluck. Wir waren des ungewahr, daß irgendwo nach fünftägiger Schlacht der Franzose den rechten Flügel von Bülows eingedrückt hatte, – Grund genug für die ängstliche Gewissenhaftigkeit eines Oberbefehlshabers, der von Onkels wegen an seinen Platz erhoben worden war, das Ganze zurückzunehmen. Wir passierten dieselben Dörfer wieder, die wir qualmend im Rücken gelassen hatten, auch den Hügel, auf dem das tragische Weib gestanden. Sie war nicht mehr da.
    Die Fittiche hatten getrogen. Es hatte nicht sein sollen. Der Krieg war nicht in raschem Ansturm zu gewinnen gewesen – so wenig wie die zu Hause verstanden wir, was das bedeutete. Wir verstanden nicht den frenetischen Jubel der Welt über den Ausgang der Marneschlacht, und daß damit aus dem kurzen Krieg, an den unser Heil gebunden gewesen, ein langer geworden war, den wir nicht ertrugen. Unsere Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit und der Kosten für die anderen, – wir hätten können die Waffen niederlegen und unsere Führer zu sofortigem Frieden zwingen, wenn wir's begriffen hätten; aber auch von ihnen ließ wohl nur einer oder der andere sich's heimlich beikommen. Hatten sie doch kaum die Tatsache bei sich verwirklicht, daß die Zeit der lokalisierbaren Kriege vorüber war und daß jeder Feldmarsch, zu dem wir uns genötigt fanden, zum Weltbrand werden mußte. In einem solchen nun waren die Vorteile der inneren Linie, der Kampffrömmigkeit, der Hoch-Bereitschaft und eines fest gegründeten, autoritätsstarken Staates auf unserer Seite und machten die Chance blitzhaft raschen Obsiegens aus. War diese verfehlt – und es stand {453} geschrieben, daß sie verfehlt werden mußte – so war es, was wir in Jahren auch noch vollbringen mochten, im Prinzip und im voraus um unsere Sache geschehen, – diesmal, das nächste Mal, immer.
    Wir wußten es nicht. Langsam wurde die Wahrheit in uns hineingequält, und der Krieg, ein verrottender, verfallender, verelendender, wenn auch immer von Zeit zu Zeit in trügerischen, die Hoffnung fristenden Halbsiegen aufleuchtender Krieg, – dieser Krieg, von dem auch ich gesagt hatte, daß er nur kurz sein könne, womit ich heimlich gemeint haben mochte, daß er nur kurz sein
dürfe
, dauerte vier Jahre. Soll ich an das Versacken und Versagen, die Abnutzung unserer Kräfte und Sachgüter, das Schäbig- und Lückenhaftwerden des Lebens, die Verarmung der Nahrung, den Verfall der Moral durch Mangel, die Neigung zum Diebstahl, dabei die plumpe Prasserei reichgewordenen Pöbels, hier ausführlich erinnern? Man dürfte mich tadeln, weil ich damit auf unbeherrschte Weise über die Grenzen meiner Aufgabe, deren Bestimmung intim-biographisch ist, hinausschweifen würde. Ich erlebte das Angedeutete, von seinen Anfängen bis zum bitteren Ende, im Hinterlande, als ein Beurlaubter und endlich Ausgemusterter, der seinem Lehramt zu Freising zurückgegeben war. Denn vor Arras, während der zweiten Kampfperiode um den festen Platz, die von Anfang Mai bis tief in den Juli 1915 dauerte, war offenbar der Entlausungsdienst unzureichend gewesen: die Infektion brachte mich für Wochen in die Isolationsbaracke, dann für einen weiteren Monat in ein Erholungsheim für lädierte Krieger im Taunus, und endlich widersetzte ich mich nicht der Auffassung, daß ich meine vaterländische Pflicht erfüllt hätte und besser täte, an meinem alten Ort der Aufrechterhaltung des Bildungswesens zu dienen.
    So tat ich und durfte Gatte und Vater auch wieder sein in dem mäßigen Heim, dessen Wände und übervertraute Gegenstän {454} de, möglicherweise der Vernichtung durch Bombenschlag anheimgegeben, auch heute noch den Rahmen meiner zurückgezogenen und entleerten Existenz bilden. Es sei noch einmal gesagt, gewiß nicht im Sinne der Ruhmredigkeit, sondern als einfache Feststellung, daß ich mein eigenes Leben, ohne es gerade zu vernachlässigen, immer nur nebenbei, mit halber Aufmerksamkeit, gleichsam mit der linken Hand führte, und daß meine eigentliche Angelegentlichkeit, Spannung, Sorge dem Dasein des Kindheitsfreundes gewidmet war, in dessen Nähe zurückgeführt zu sein mich so froh machte, – wenn dieses Wort »froh« am Platze ist bei dem leisen und kühlen Schauer von Beklemmung, schmerzlichem Unbeantwortetsein, der von seiner in wachsendem Maße schöpferischen

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