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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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den Krieg namentlich in den besiegten Ländern, die dadurch einen gewissen geistigen Vorsprung vor den anderen hatten, sehr lebhaft empfunden wurde. Es wurde sehr stark empfunden und objektiv festgestellt: der ungeheuere Wertverlust, den durch das Kriegsgeschehen das Individuum als solches erlitten hatte, die Achtlosigkeit, mit der heutzutage das Leben über den Einzelnen hinwegschritt, und die sich denn auch als allgemeine Gleichgültigkeit gegen sein Leiden und Untergehen im Gemüte der Menschen niederschlug. Diese Achtlosigkeit, diese Indifferenz gegen das Schicksal des Einzelwesens konnte als gezüchtet erscheinen durch die eben zurückliegende vierjährige Blut-Kirmes; aber {530} man ließ sich nicht täuschen: wie in manch anderer Hinsicht hatte auch hier der Krieg nur vollendet, verdeutlicht und zur drastischen Erfahrung gemacht, was längst vorher sich angebahnt, einem neuen Lebensgefühl sich zugrundegelegt hatte. Da aber dies keine Sache des Lobes oder Tadels, sondern eine solche sachlicher Wahrnehmung und Feststellung war; und da in der leidenschaftslosen Erkenntnis des Wirklichen, eben aus Freude an der Erkenntnis, immer etwas von Gutheißung liegt, – wie hätte nicht eine vielseitige, ja umfassende Kritik an der bürgerlichen Tradition, womit ich meine: an den Werten der Bildung, Aufklärung, Humanität, an solchen Träumen wie der Hebung der Völker durch wissenschaftliche Gesittung, sich mit solchen Betrachtungen verbinden sollen? Daß es Männer der Bildung, des Unterrichts, der Wissenschaft waren, die diese Kritik übten – und zwar mit Heiterkeit, nicht selten unter selbstgefällig-geistesfrohem Gelächter übten, verlieh der Sache noch einen besonderen, prickelnd beunruhigenden oder auch leicht perversen Reiz; und wohl überflüssig ist es dabei, zu sagen, daß die uns Deutschen durch die Niederlage zuteilgewordene Staatsform, die uns in den Schoß gefallene Freiheit, mit einem Wort: die demokratische Republik auch nicht einen Augenblick als ernstzunehmender Rahmen für das visierte Neue anerkannt, sondern mit einmütiger Selbstverständlichkeit als ephemer und für den Sachverhalt von vornherein bedeutungslos, ja, als ein schlechter Spaß über die Achsel geworfen wurde.
    Man zitierte Tocqueville (Alexis de), der gesagt hatte, aus der Revolution seien wie aus einer gemeinsamen Quelle zwei Ströme entsprungen: der eine für die Menschen zu freien Einrichtungen, der andere zur absoluten Macht. An »freie Einrichtungen« glaubte von den bei Kridwiß konversierenden Herren niemand mehr, zumal da die Freiheit sich innerlich selbst widerspreche, insofern als sie zu ihrer Selbstbehauptung ge {531} zwungen sei, die Freiheit, nämlich die ihrer Gegner, einzuschränken, d.h. sich selbst aufzuheben. Dies sei ihr Schicksal, wenn nicht von vornherein das Freiheitspathos der Menschenrechte über Bord geworfen werde, wozu die Zeit viel mehr Neigung zeige, als sich erst auf den dialektischen Prozeß einzulassen, der aus der Freiheit die Diktatur ihrer Partei mache. Auf Diktatur, auf Gewalt lief ohnehin alles hinaus, denn mit der Zertrümmerung der überlieferten staatlichen und gesellschaftlichen Formen durch die Französische Revolution war ein Zeitalter angebrochen, das, bewußt oder nicht, eingestanden oder nicht, auf die despotische Zwangsherrschaft über nivellierte, atomisierte, kontaktlose und, gleich dem Individuum, hilflose Massen zusteuerte.
    »Recht wohl! Recht wohl! O freilich doch, man kann es sagen!« versicherte Zur Höhe und schlug dringlich mit dem Fuße auf. Natürlich konnte man es sagen, nur hätte man es, da es sich schließlich um die Beschreibung einer heraufziehenden Barbarei handelte, für mein Gefühl mit etwas mehr Bangen und Grauen sagen sollen und nicht mit jener heiteren Genugtuung, von der man allenfalls gerade noch hoffen konnte, daß sie der Erkenntnis der Dinge und nicht den Dingen selber galt. Ich will von dieser mich bedrückenden Heiterkeit ein anschauliches Bild geben. Niemand wird sich wundern, daß bei den Unterhaltungen dieser kulturkritischen Avantgarde ein sieben Jahre vor dem Krieg erschienenes Buch, die »Réflexions sur la violence« von Sorel eine bedeutende Rolle spielte. Seine unerbittliche Vorhersage von Krieg und Anarchie, seine Kennzeichnung Europas als des Bodens der kriegerischen Kataklysmen, seine Lehre, daß die Völker dieses Erdteils sich immer nur in der einen Idee vereinigen könnten: Krieg zu führen, – dies alles berechtigte dazu, es das Buch

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