Doktor Faustus
diese nicht ohne weiteres Zustimmung, sondern, wenigstens vorderhand, nur lachend geistesfrohe Erkenntnis des Seienden oder Kommenden bedeutete. Ich schlug wohl einmal, »wenn wir einen Augenblick ernst sein wollten« vor, zu überlegen, ob nicht ein Denker, dem die Nöte der Gemeinschaft sehr wohl am Herzen lägen, dennoch vielleicht besser täte, sich die Wahrheit und nicht die Gemeinschaft zum Ziel zu setzen, da dieser mittelbar und auf die Dauer mit der Wahrheit, und selbst der bitteren Wahrheit, besser gedient sei, als mit einem Denken, das ihr auf Kosten der Wahrheit dienen zu sollen meine, in Wirklichkeit aber durch solche Verleugnung die Grundlagen echter Gemeinschaft von innen her aufs unheimlichste zersetze. Aber ich habe nie im Leben eine Bemerkung gemacht, die kompletter und widerhalloser unter den Tisch gefallen wäre, als diese. Auch gebe ich zu, daß sie taktlos war, da sie nicht in die geistige Stimmung paßte und von einem natürlich bekannten, nur zu bekannten, bis zur Abgeschmacktheit bekannten Idealismus eingegeben war, der nur das Neue störte. Viel besser tat ich, im Verein mit der angeregten Tafelrunde dieses Neue zu betrachten und zu erkunden und, statt eine unfruchtbare, recht eigentlich langweilige Opposition dagegen zu machen, meine Vorstellungen dem Gange der Diskussion einzuschmiegen und mir in ihrem Rahmen ein Bild der kommenden, unter der Hand schon in der Entstehung begriffenen Welt zu machen – wie immer es nun dabei um die Gefühle meiner Magengrube bestellt sein mochte.
Es war eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige Welt, in {535} welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren oder doch einen von dem der letzten Jahrhunderte ganz verschiedenen Sinn angenommen hatten, indem sie nämlich der bleichen Theorie entrissen und blutvoll relativiert, auf die weit höhere Instanz der Gewalt, der Autorität, der Glaubensdiktatur bezogen waren, – nicht etwa auf eine reaktionäre, gestrige oder vorgestrige Weise, sondern so, daß es der neuigkeitsvollen Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mittelalterliche Zustände und Bedingungen gleichkam. Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, d.h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es: Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen. Die Voraussetzungslosigkeit der Forschung, der freie Gedanke, fern davon, den Fortschritt zu repräsentieren, gehörten vielmehr einer Welt der Zurückgebliebenheit und der Langenweile an. Dem Gedanken war Freiheit gegeben, die Gewalt zu rechtfertigen, wie vor siebenhundert Jahren die Vernunft frei gewesen war, den Glauben zu erörtern, das Dogma zu beweisen; dazu war sie da, und dazu war heute das Denken da oder würde es morgen sein. Die Forschung hatte
allerdings
Voraussetzungen – und ob sie welche hatte! Es waren die Gewalt, die Autorität der Gemeinschaft, und zwar waren sie es mit solcher Selbstverständlichkeit, daß die Wissenschaft gar nicht auf den Gedanken kam, etwa nicht frei zu sein. Sie war es subjektiv durchaus – innerhalb einer objektiven Gebundenheit, so eingefleischt und naturhaft, daß sie in keiner Weise als Fessel empfunden wurde. Um sich deutlich zu machen, was bevorstand, und um sich der törichten Furcht davor zu entschlagen, mußte man sich nur erinnern, daß die Unbedingtheit bestimmter Voraussetzungen und sakrosankter Bedin {536} gungen niemals ein Hindernis für die Phantasie und die individuelle Kühnheit des Gedankens gewesen waren. Im Gegenteil: gerade weil das geistig Uniforme und Geschlossene dem mittelalterlichen Menschen durch die Kirche von vornherein als absolut selbstverständlich gegeben gewesen, war er weit mehr Phantasiemensch gewesen, als der Bürger des individualistischen Zeitalters, hatte er sich der persönlichen Einbildungskraft im einzelnen desto sicherer und sorgloser überlassen können.
O ja, die Gewalt schuf einen festen Boden unter den Füßen, sie war anti-abstrakt, und sehr gut tat ich, mir in Zusammenarbeit mit Kridwißens Freunden vorzustellen, wie das Alt-Neue auf dem und jenem Gebiet das Leben methodisch verändern werde. Der Pädagog zum Beispiel wußte, daß schon heute im Elementar-Unterricht die Neigung bestand, vom primären Erlernen der Buchstaben,
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