Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
des Lautierens abzugehen und sich der Methode des Wörter-Lernens zuzuwenden, das Schreiben an die konkrete Anschauung der Dinge zu knüpfen. Dies bedeutete gewissermaßen ein Abkommen von der abstrakt-universellen, sprachlich nicht gebundenen Buchstabenschrift, gewissermaßen die Rückkehr zu den Wortschriften der Urvölker. Heimlich dachte ich: Wozu überhaupt Wörter, wozu Schreiben, wozu Sprache? Radikale Sachlichkeit müßte sich an die Dinge halten, an diese allein. Und ich erinnerte mich an eine Satire von Swift, wo reformfreudige Gelehrte beschließen, zur Schonung der Lungen und um der Phrase zu entgehen, Wort und Rede überhaupt abzuschaffen und sich nur durch Vorzeigung der Dinge selbst zu unterhalten, die man allerdings, im Interesse der Verständigung, möglichst vollzählig auf dem Rücken mit sich würde herumtragen müssen. Die Stelle ist sehr komisch, besonders noch dadurch, daß es die Weiber, der Pöbel und die Analphabeten sind, die sich gegen die Neuerung auflehnen und darauf bestehen, in Worten zu schwatzen. Nun, {537} meine Interlokutoren gingen auf eigene Hand mit ihren Vorschlägen nicht so weit wie jene Swift'schen Gelehrten. Sie gaben sich mehr die Miene distanzierter Beobachter, und als »enorm wischtisch« faßten sie die allgemeine und schon deutlich hervortretende Bereitschaft ins Auge, sogenannte kulturelle Errungenschaften kurzerhand fallen zu lassen, um einer als notwendig und zeitgegeben empfundenen Vereinfachung willen, die man, wenn man wollte, als intentionelle Re-Barbarisierung bezeichnen konnte. Sollte ich meinen Ohren trauen? Ich mußte lachen und schrak dabei buchstäblich zusammen, als plötzlich die Herren in diesem Zusammenhang auf die dentistische Medizin und, ganz gegenständlich, auf Adrians und mein musikkritisches Symbol vom »toten Zahn« zu sprechen kamen! Ich glaube wirklich, ich hatte einen roten Kopf beim Mitlachen, als unter geistesfroher Heiterkeit die wachsende Neigung der Zahnärzte erörtert wurde, Zähne mit abgestorbenem Nerv kurzerhand auszureißen, da man zu dem Entschluß gekommen war, sie als infektiöse Fremdkörper zu betrachten – nach einer langen, mühevollen und ins Raffinierte gehenden Entwicklung der Wurzelbehandlungstechnik im 19ten Jahrhundert. Wohl gemerkt – und es war namentlich Dr. Breisacher, der dies scharfsinnig und unter allgemeiner Zustimmung anmerkte: Der hygienische Gesichtspunkt hatte dabei mehr oder weniger als eine Rationalisierung der primär vorhandenen Tendenz zum Fallenlassen, Aufgeben, Abkommen und Vereinfachen zu gelten, – bei hygienischen Begründungen war jeder Ideologie-Verdacht am Platze. Zweifellos würde man auch die Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassehygienisch begründen, während es sich in Wirklichkeit – man wollte das gar nicht leugnen, sondern betonte es im Gegenteil – um weit tiefere Entschlüsse, um die Absage an alle humane Verweichlichung handeln wür {538} de, die das Werk der bürgerlichen Epoche gewesen war: um ein instinktives Sich-in-Form-bringen der Menschheit für harte und finstere, der Humanität spottende Läufte, für ein Zeitalter umfassender Kriege und Revolutionen, das wohl hinter die christliche Zivilisation des Mittelalters weit zurückführen und eher die dunkle Epoche vor deren Entstehung, nach dem Zusammenbruch der antiken Kultur zurückbringen werde …

XXXIV
(Schluß)
    Wird man es verstehen, daß ein Mann bei der Verarbeitung solcher Neuigkeiten 14 Pfund Gewicht verlieren mag? Sicherlich hätte ich sie nicht eingebüßt, wenn ich an die Ergebnisse der Sitzungen bei Kridwiß nicht geglaubt hätte und der Überzeugung gewesen wäre, daß diese Herren Unsinn schwätzten. Aber das war ganz und gar nicht meine Meinung. Vielmehr verhehlte ich mir keinen Augenblick, daß sie mit anerkennenswerter Fühlsamkeit die Finger am Pulse der Zeit hatten und nach diesem Pulse wahr-sagten. Nur wäre ich – ich muß das wiederholen – so unendlich dankbar gewesen und hätte wahrscheinlich nicht 14 Pfund, sondern vielleicht nur 7 abgenommen, wenn sie selber etwas erschrockener über ihre Befunde gewesen wären und ihnen ein wenig moralische Kritik entgegengesetzt hätten. Sie hätten sagen mögen: »Unglücklicherweise hat es ganz den Anschein, als wollten die Dinge den und den Lauf nehmen. Folglich muß man sich ins Mittel legen, vor dem Kommenden warnen und das seine tun,

Weitere Kostenlose Bücher