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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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der Epoche zu nennen. Was noch mehr dazu berechtigte, war seine Einsicht und Verkündigung, daß im Zeitalter der Massen die parlamentarische Diskussion {532} sich zum Mittel politischer Willensbildung als gänzlich ungeeignet erweisen müsse; daß an ihre Stelle in Zukunft die Versorgung der Massen mit mythischen Fiktionen zu treten habe, die als primitive Schlachtrufe die politischen Energien zu entfesseln, zu aktivieren bestimmt seien. Dieses war in der Tat die krasse und erregende Prophetie des Buches, daß populäre oder vielmehr massengerechte Mythen fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein würden: Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt nichts zu tun zu haben brauchten, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen. Man sieht wohl, daß das Buch seinen bedrohlichen Titel nicht umsonst trug, denn es handelte von der Gewalt als dem siegreichen Widerspiel der Wahrheit. Es ließ begreifen, daß das Schicksal der Wahrheit demjenigen des Individuums nahe verwandt, ja damit identisch, nämlich dasjenige der Entwertung war. Es eröffnete eine höhnische Kluft zwischen Wahrheit und Kraft, Wahrheit und Leben, Wahrheit und Gemeinschaft. Es gab implicite zu verstehen, daß dieser bei weitem der Vorrang vor jener gebühre, daß jene diese zum Ziel haben und daß zu kräftigen Abstrichen an Wahrheit und Wissenschaft, zum sacrificium intellectus bereit sein müsse, wer der Gemeinschaft teilhaftig sein wolle.
    Und nun stelle man sich vor (ich komme zu dem »anschaulichen Bilde«, das ich zu geben versprach), wie diese Herren, Wissenschaftler selbst, Gelehrte, Hochschullehrer, Vogler, Unruhe, Holzschuher, Institoris und dazu Breisacher, sich an einer Sachlage ergötzten, die für mich soviel Schreckhaftes hatte, und die sie entweder schon als vollendet, oder doch als notwendig kommend betrachteten. Sie machten sich den Spaß, eine Gerichtsverhandlung zu imaginieren, in welcher eine jener dem politischen Antrieb, der Unterwühlung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung dienenden Massenmythen zur Diskussion {533} stand, ihre Protagonisten sich gegen den Vorwurf der »Lüge« und »Fälschung« zu verteidigen hatten und nun also die Parteien, Kläger und Angeklagte, nicht sowohl an einander gerieten, wie einander aufs lächerlichste verfehlten und an einander vorbeiredeten. Das Groteske war der gewaltige Apparat wissenschaftlicher Zeugenschaft, den man aufgeboten hatte, um den Humbug als Humbug, als skandalösen Affront gegen die Wahrheit zu erweisen, da doch der dynamisch-geschichtsschöpferischen Fiktion, der sogenannten Fälschung, das hieß: dem gemeinschaftsbildenden Glauben von dieser Seite gar nicht beizukommen war und ihre Verfechter desto höhnisch-überlegenere Gesichter machten, je emsiger man sich mühte, sie auf ganz fremder und für sie irrelevanter Ebene, der wissenschaftlichen nämlich, der Ebene der biederen, objektiven Wahrheit zu widerlegen. Du lieber Gott, die Wissenschaft, die Wahrheit! Von Geist und Ton dieses Ausrufs waren die dramatischen Ausmalungen der Plaudernden beherrscht. Sie konnten sich nicht genug tun im Amusement über das verzweifelte Anrennen von Kritik und Vernunft gegen den durch sie ganz unberührbaren, völlig unverletzlichen Glauben und wußten mit vereinten Kräften die Wissenschaft in ein solches Licht komischer Ohnmacht zu setzen, daß selbst die »schönen Prinsen« sich auf ihre kindliche Weise glänzend dabei unterhielten. Die vergnügte Tischrunde zögerte nicht, der Justiz, die das letzte Wort zu sprechen, das Urteil zu fällen hatte, die gleiche Selbstverleugnung zuzuschreiben, die sie selber übte. Eine Jurisprudenz, die im Volksempfinden zu ruhen und sich nicht von der Gemeinschaft zu isolieren wünschte, durfte es sich nicht erlauben, den Gesichtspunkt der theoretischen, gemeinschaftswidrigen sogenannten Wahrheit zu dem ihren zu machen; sie hatte sich als modern sowohl wie vaterländisch, als vaterländisch im modernsten Sinn zu bewähren, indem sie das fruchtbare falsum respektierte, seine Apostel freisprach und die Wissenschaft mit langer Nase abziehen ließ.
    {534} O freilich, freilich, gewiß doch, man konnte es sagen. Klopf, klopf.
    Obgleich mir unwohl war in der Magengrube, durfte ich nicht den Spielverderber machen und mir von Widerwillen nichts anmerken lassen, sondern mußte in die allgemeine Heiterkeit einstimmen so gut es ging, zumal ja

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