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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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leicht aufgeworfenen Lippen, mit denen er so meisterlich zu pfeifen verstand. Ich bin nicht schnell von Umsicht; nur nach und nach stellte sich mir heraus, daß sich {650} noch andere Bekannte im Wagen befanden. Ich tauschte einen Gruß mit Dr. Kranich, der auf Schwerdtfegers Seite, aber weit von ihm bei der rückwärtigen Tür seinen Platz hatte. Ein gelegentliches Vorbeugen ließ mich zu meiner Überraschung Ines Institoris gewahren, die auf derselben Seite wie ich, mehrere Plätze von mir, gegen die Mitte hin, Schwerdtfegern schräg gegenüber, saß. Ich sage: zu meiner Überraschung, denn ihr Heimweg war dies ja nicht. Da ich aber, wieder ein paar Plätze weiter, ihre Freundin, Frau Binder-Majoresku, bemerkte, die weit draußen in Schwabing, noch hinter dem »GroßenWirt« wohnte, so kalkulierte ich, daß Ines bei ihr den Abendtee zu nehmen gedachte.
    Begreiflich wurde mir nun aber, warum Schwerdtfeger seinen hübschen Kopf meist nach rechts gewandt hielt, so daß sich mir nur sein etwas zu stumpfes Profil bot. Nicht allein den Mann zu ignorieren, den er als Adrians anderes Ich betrachten mochte, lag ihm ob, und im stillen machte ich ihm Vorwürfe, weil er nun gerade mit diesem Wagen hatte fahren müssen, – ungerechte Vorwürfe wahrscheinlich, da nicht gesagt war, daß er ihn zugleich mit Ines bestiegen hatte. Sie konnte, so gut wie ich, nach ihm hereingekommen sein, oder, wenn es umgekehrt gewesen war, so hatte er bei ihrem Anblick nicht gut Reißaus nehmen können.
    Wir passierten die Universität, und eben stand der Schaffner in seinen Filzstiefeln vor mir, um meinen Zehner entgegenzunehmen und mir meinen Gradaus-Schein in die Hand zu schieben, als das Unglaubliche und, wie alles völlig Unerwartete, zunächst ganz Unverständliche geschah. Ein Schießen ging los im Wagen, flache, scharfe, schmetternde Detonationen, eine nach der anderen, drei, vier, fünf, in wilder betäubender Schnelligkeit, und drüben sank Schwerdtfeger, seinen Geigenkasten zwischen den Händen, erst an die Schulter und dann in den Schoß der rechts neben ihm sitzenden Dame, die {651} sich, wie auch die zu seiner Linken, entsetzt von ihm wegbog, während ein allgemeiner Tumult, mehr Flucht und kreischende Panik, als geistesgegenwärtiges Einschreiten, den Wagen erfüllte und vorn der Wagenführer, Gott weiß, warum, in einemfort wie toll auf die Glocke trat, – mag sein, um einen Schutzmann herbeizurufen. Natürlich war keiner in Hörweite. Ein fast gefährliches Gedränge entwickelte sich in dem zum Stehen gekommenen Wagen, da manche Passagiere das Freie suchen wollten, andere von den Plattformen, neugierig oder tatenlustig, hereinstrebten. Die beiden Herren, die im Gang gestanden, hatten sich zusammen mit mir auf Ines geworfen – viel zu spät natürlich. Wir brauchten ihr den Revolver nicht zu »entwinden«; sie hatte ihn fallen lassen oder vielmehr von sich geworfen und zwar in der Richtung ihres Opfers. Ihr Gesicht war weiß wie ein Blatt Papier, mit scharf umgrenzten hochroten Flecken auf den Wangenknochen. Sie hielt die Augen geschlossen und lächelte irr, mit gespitztem Munde.
    Man hielt sie an den Armen, und ich stürzte hinüber zu Rudolf, den man auf der ganz leer gewordenen Bank ausgestreckt hatte. Auf der anderen lag blutend und in Ohnmacht die Dame, auf die er gefallen war, und die einen, wie sich herausstellte, harmlosen Streifschuß in den Arm erhalten hatte. Bei Rudolf standen mehrere Leute, darunter Dr. Kranich, der seine Hand hielt.
    »Was für eine entsetzliche, besinnungslose, unvernünftige Tat!« sagte er, bleichen Angesichts, in seiner klaren, akademisch wohlartikulierten und dabei asthmatischen Sprechweise, indem er das Wort »entsetzlich«, wie man es öfters, auch von Schauspielern, hört, »entzetzlich« aussprach. Er fügte hinzu, nie habe er mehr bedauert, nicht Mediziner, sondern nur Numismatiker zu sein, und wirklich erschien mir in diesem Augenblick die Münzenkunde als die müßigste der Wissenschaften, noch unnützer, als die Philologie, was keineswegs aufrecht {652} zu halten ist. Tatsächlich war kein Arzt zur Stelle, nicht einer unter so vielen Konzertbesuchern, obgleich doch Ärzte musikalisch zu sein pflegen, schon weil so viele Juden darunter sind. Ich beugte mich über Rudolf. Er gab Lebenszeichen, war aber gräßlich getroffen. Unter seinem einen Auge war ein blutender Einschuß. Andere Kugeln waren ihm, wie sich erwies, in den Hals, die Lunge, die Kranzgefäße des Herzens gegangen. Er

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