Doktor Faustus
rezitierte, und er verfügte über eine ganze Auswahl davon, so daß er kaum je an zwei aufeinander folgenden Abenden sich des gleichen bediente. Zu bemerken ist, daß er »Gott« immer wie »Got« aussprach und es liebte, dem »wer«, »welch« und »wie« ein anlautendes S zu verleihen, so daß er sagte:
»Swelch Mensche lebt in Gotes Gebote,
In dem ist Got und er in Gote.
Demselben ich mich befehlen tu.
Wird mir helffen zu rechter Ruh. Amen.«
{683} Oder:
»Swie groß si jemands Missetat,
Got dennoch mehr Genaden hat.
Mein Sünd nicht viel besagen will,
Got lächelt in Seiner Gnadenfüll'. Amen.«
Oder:
»Swer um diese kurze Zit
Die ewigen Freude git, (gibt)
Der hat sich selbe gar betrogen,
Und zimbert auf den Regenbogen.
Gib, daß ich bau auf fasten Grund
Und deiner Freuden werde kund! Amen.«
Oder, sehr merkwürdig wegen der unverkennbaren Färbung des Gebetes durch die Prädestinationslehre:
»Durch Sünde nieman lassen soll
Er tu doch noch etwelches Wohl.
Niemanes Guttat wird verlorn,
Er sei zur Höllen denn geborn.
O wöllten ich und die ich mein' (liebe)
Zur Seligkeit geschaffen sein! Amen.«
Dann auch zuweilen:
»Die Sonne schint den Tüfel an
Und scheidet reine doch hindan.
Halt du mich rein im Erdentale,
Bis daß ich Todesschuld bezahle. Amen.«
Oder endlich:
»Merkt, swer für den andern bitt'
Sich selben löset er damit.
{684} Echo bitt' für die ganze Welt,
Daß Got auch ihn in Armen hält. Amen.«
Diesen Spruch hörte ich selbst von ihm mit größter Rührung, ohne daß er, glaube ich, meiner Gegenwart gewahr wurde.
»Was sagst du«, fragte Adrian mich draußen, »zu dieser theologischen Spekulation? Er bittet gleich für die ganze Schöpfung, ausdrücklich um selbst mit eingeschlossen zu sein. Sollte der Fromme eigentlich wissen, daß er sich selber dient, indem er für andere bittet? Die Uneigennützigkeit ist doch aufgehoben, sobald man sich merkt, daß sie nützlich ist.«
»So weit hast du recht«, erwiderte ich. »Er wendet die Sache aber doch ins Uneigennützige, indem er nicht für sich selbst nur bitten mag, sondern es für uns alle tut.«
»Ja, für uns alle«, sagte Adrian leise.
»Übrigens sprechen wir von ihm«, fuhr ich fort, »als hätte er selbst sich diese Dinge ausgedacht. Hast du ihn je gefragt, woher er sie hat? Von seinem Vater oder von wem?«
Die Antwort war:
»O nein, ich ziehe es vor, die Frage auf sich beruhen zu lassen, und nehme an, er wüßte mir keinen Bescheid.«
Es schien, die Schweigestillschen Frauen hielten es ebenso. Auch sie haben, meines Wissens, niemals das Kind befragt, wie es zu seinen Abendsprüchlein gekommen sei. Von ihnen habe ich diejenigen, die ich nicht selber von ferne mit angehört. Ich ließ sie mir von ihnen sagen zu einer Zeit, als Nepomuk Schneidewein nicht mehr unter uns weilte.
XLV
Er wurde uns genommen, das seltsam-holde Wesen wurde von dieser Erde genommen, – ach, du mein Gott, was suche ich nach sanften Worten für die unfaßlichste Grausamkeit, deren Zeuge {685} ich je gewesen, und die mir das Herz noch heute zu bitterer Anklage, ja zur Empörung versucht. Mit entsetzlicher Wildheit und Wut wurde er gepackt und in wenigen Tagen dahingerafft, durch eine Krankheit, von der kein Fall in der Gegend seit längerem vorgekommen war, von der aber der gute, von solchem Ungestüm ihres Auftretens ganz betroffene Dr. Kürbis uns sagte, daß Kinder während der Rekonvaleszenz von Masern oder Keuchhusten wohl anfällig für sie seien.
Die ersten Merkmale eines alterierten Befindens mit eingerechnet, spielte das Ganze sich in knapp zwei Wochen ab, von denen die erste noch das schrecklich Bevorstehende niemanden – ich glaube, niemanden – ahnen ließ. Es war Mitte August und draußen die Ernte, mit zusätzlichen Arbeitskräften, in vollem Gange. Zwei Monate lang war Nepomuk die Freude des Hauses gewesen. Ein Schnupfen trübte die süße Klarheit seiner Augen – es war gewiß auch nur diese lästige Affektion, die ihm die Eßlust raubte, ihn verdrießlich stimmte und die Somnolenz verstärkte, zu der er, seit wir ihn kannten, geneigt hatte. Er sagte »'habt« zu allem, was man ihm anbot, zur Nahrung, zum Spielen, zum Bilderbesehen, zum Märchenhören. »'Habt!« sagte er, das Mienchen schmerzlich verzogen und wandte sich ab. Bald trat eine Intoleranz gegen Licht und Töne hervor, beunruhigender, als die bisherige Verstimmung. Er schien das Geräusch in den Hof einfahrender Wagen, den Stimmklang der Leute
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