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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Flüssigkeit austrat. Fast sofort ließen die unsinnigen Kopfschmerzen nach. Sollten sie wiederkehren, sagte der Doktor, – er wußte, daß sie schon nach ein paar Stunden wiederkehren mußten, da nur solange die Druckentlastung durch die Entziehung der Gehirnventrikelflüssigkeit vorhält –, so solle man außer dem obligaten Eisbeutel die Chloral-Medizin geben, die er verschrieb, und die aus der Kreisstadt geholt wurde.
    Aus dem Schlaf der Erschöpfung, in den er nach der Punktion gefallen war, durch neues Erbrechen, Konvulsionen seines kleinen Körpers und schädelsprengende Schmerzen aufgestört, begann Nepomuk wieder sein herzzerreißendes Lamentieren und gellendes Aufschreien, – es war der typische »hydrocephale Schrei«, gegen den nur das Gemüt des Arztes, eben weil er ihn als typisch erfaßt, leidlich gewappnet ist. Das Typische läßt kühl, nur das als individuell Verstandene macht, daß wir außer uns geraten. Dies ist die Ruhe der Wissenschaft. Sie hinderte ihren ländlichen Jünger nicht, von den Brom- und Chloral-Präparaten seiner ersten Verordnung sehr bald zum Morphin überzugehen, das etwas besser anschlug. Er mochte sich ebensosehr um der Hausbewohner willen – wobei ich besonders einen im Auge habe – wie aus Barmherzigkeit für das gemarterte Kind dazu entschließen. Nur alle 24 Stunden durfte die Flüssigkeitsentnahme wiederholt werden, und nur während zweier davon hielt die Erleichterung an. Zweiundzwanzig Stunden schreiender, sich bäumender Folter eines Kindes, und
dieses
Kindes, das die bebenden Händchen faltet und stammelt: »Echo will herzig sein, Echo will herzig sein!« Ich füge hinzu und sage, daß für die, die Nepomuk sahen, ein Nebensymptom vielleicht das Schrecklichste war. Es war das zunehmende schie {689} lende Verschießen seiner Himmelsaugen, zu erklären aus einer mit der Nackenstarre einhergehenden Augenmuskellähmung. Es verfremdete jedoch das süße Gesicht aufs gräßlichste und erweckte besonders im Verein mit dem Zähneknirschen, in das der Heimgesuchte bald verfiel, einen Eindruck von Besessenheit.
    Am nächsten Nachmittag kam, von Waldshut abgeholt durch Gereon Schweigestill, die konsultierende Autorität aus München, Professor von Rothenbuch. Unter den von Kürbis vorgeschlagenen hatte Adrian ihn seines Rufes wegen gewählt. Er war ein hochgewachsener, gesellschaftlich gewandter, zur Königszeit persönlich geadelter, vielgesuchter und kostspieliger Mann mit einem wie zu beständiger Examinierung halb geschlossenen Auge. Er beanstandete das Morphin, weil es ein Coma vortäuschen könne, das »noch gar nicht eingetreten« sei, und ließ nur Codein zu. Offenbar lag ihm vor allem an einem korrekten, in seinen Stadien unverwischten Ablauf des Falles. Im übrigen bestätigte er nach der Untersuchung die Anordnungen seines ländlichen, ihn sehr umdienernden Kollegen: also Abblendung des Tageslichtes, Hochlagerung des gekühlten Kopfes, vorsichtigste Berührung des kleinen Patienten, Hautpflege durch Alkohol-Abreibungen und konzentrierte Nahrung, deren Einführung mit Schlauch durch die Nase wahrscheinlich notwendig werden würde. Seine Tröstungen waren, wohl weil er sich nicht im Elternhause des Kindes befand, freimütig-unzweideutiger Art. Bewußtseinstrübung, legitim und nicht verfrüht durch Morphin herbeigeführt, werde nicht lange auf sich warten lassen und sich rasch vertiefen. Das Kind werde dann weniger und endlich überhaupt nicht mehr leiden. Auch krasse Symptome solle man sich aus diesem Grunde nicht allzu nah gehen lassen. Nachdem er die Güte gehabt, eigenhändig die zweite Punktion auszuführen, verabschiedete er sich würdevoll und kam nicht wieder.
    {690} Für mein Teil konnte ich mich, durch Mutter Schweigestill täglich über die jammervollen Vorgänge telephonisch benachrichtigt, erst am vierten Tage nach dem vollen Ausbruch der Krankheit, einem Samstag, in Pfeiffering einfinden, als, unter wütenden Krämpfen, die den kleinen Leib auf die Folter zu spannen schienen und ihm die Augäpfel nach oben kehrten, das Coma schon eingesetzt hatte, des Kindes Schreien verstummt war, und nur noch Zähneknirschen übrig blieb. Frau Schweigestill, übernächtigen Anblicks und mit dickverweinten Augen, empfing mich im Haustor und empfahl mir dringend, sogleich zu Adrian zu gehen. Das arme Kind, bei dem übrigens seit gestern nacht schon die Eltern seien, sähe ich früh genug. Der Herr Doktor aber, er habe meinen Zuspruch nötig, es stehe nicht gut um

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