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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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als übermäßig zu empfinden. »Sprecht leise!« bat er und flüsterte selbst, wie um ein Beispiel zu geben. Nicht einmal die zierlich klimpernde Spieldose wollte er hören, sprach rasch sein gequältes »'habt, 'habt!«, stoppte eigenhändig das Werk und weinte dann bitterlich. So floh er den Sonnenschein jener Hochsommertage in Hof und Garten, suchte das Zimmer, saß dort gebückt und rieb sich die Augen. Schwer war es zu sehen, wie er, sein Heil suchend, von einem, der ihn liebte, zum anderen ging und ihn umhalste, um bald wieder ungetröstet von {686} jedem abzulassen. So klammerte er sich an Mutter Schweigestill, an Clementine, an die Magd Waltpurgis und kam aus demselben Triebe mehrmals zu seinem Onkel. Er drängte sich an seine Brust und blickte, auf seinen sanften Zuspruch lauschend, zu ihm auf, lächelte auch wohl schwach, ließ aber dann das Köpfchen in Abständen tief und tiefer sinken und murmelte »'Nacht!«, – womit er auf seine Füße glitt und leise schwankend das Zimmer verließ.
    Der Arzt kam, nach ihm zu sehen. Er gab ihm Nasentropfen und verschrieb ein tonisches Mittel, hielt aber nicht mit der Vermutung zurück, daß wohl eine ernstere Krankheit im Anzuge sein könnte. Auch gegen seinen langjährigen Patienten in der Abtsstube äußerte er diese Besorgnis.
    »Meinen Sie?« fragte Adrian erbleichend.
    »Die Sache ist mir nicht ganz geheuer«, meinte der Doktor.
    »Nicht geheuer?!«
    Die Wendung wurde in so erschrecktem und fast schrecklichem Ton wiederholt, daß Kürbis sich fragte, inwiefern er damit übers Ziel geschossen.
    »Nun ja, in dem Sinn, wie ich sagte«, antwortete er. »Sie selbst könnten besser ausschauen, Verehrter. Hängen wohl arg an dem Buberl?«
    »O doch«, hieß es da. »Es ist eine Verantwortung, Doktor. Das Kind ist zur Stärkung seiner Gesundheit hier auf dem Lande in unsere Obhut gegeben worden …«
    »Das Krankheitsbild, wenn man von einem solchen überhaupt sprechen kann«, erwiderte der Arzt, »bietet im Augenblick keinerlei Handhabe für eine unerfreuliche Diagnose. Ich komme morgen wieder.«
    Das tat er und konnte seine Bestimmung des Falles nun mit nur allzu viel Sicherheit abgeben. Nepomuk hatte ein jähes, eruptionsartiges Erbrechen gehabt, und zugleich mit Fieber von allerdings nur mittleren Graden hatten Kopfschmerzen {687} eingesetzt, die sich binnen wenigen Stunden ins offenbar Unerträgliche steigerten. Das Kind war, als der Doktor kam, schon zu Bette gebracht worden, hielt sich das Köpfchen mit beiden Händen und stieß Schreie aus, die sich oft, eine Marter für jeden, der es hörte – und man hörte es durch das ganze Haus – bis zum letzten Rest des Atems verlängerten. Dazwischen streckte es die Händchen nach denen aus, die es umgaben, und rief: »Helft! Helft! O Hauptwehe! Hauptwehe!« Dann riß ein neues wildes Erbrechen es auf, von dem es unter Zuckungen zurücksank.
    Kürbis prüfte des Kindes Augen, deren Pupillen sehr klein zusammengezogen waren, und die eine Neigung zum Schielen zeigten. Der Puls eilte. Muskelkontraktionen und eine beginnende Starre des Nackens waren deutlich. Es war Cerebrospinal-Meningitis, die Hirnhautentzündung, – der gute Mann sprach, mit einer mißlichen Kopfbewegung nach der Schulter, den Namen aus, in der Hoffnung doch wohl, man möchte sich über die fast völlige Ohnmacht nicht im klaren sein, die seine Wissenschaft vor dieser fatalen Berührung einzugestehen hatte. Eine Andeutung davon lag in seinem Vorschlag, man möge immerhin vielleicht den Eltern des Kindes telegraphische Nachricht geben. Die Gegenwart der Mutter wenigstens werde wahrscheinlich beruhigend auf den kleinen Patienten wirken. Ferner verlangte er die Zuziehung eines Internisten aus der Hauptstadt, mit dem er sich in die Verantwortung für den leider nicht unernsten Fall zu teilen wünsche. »Ich bin ein einfacher Mann«, sagte er. »Hier ist ein Aufgebot von höherer Autorität am Platze.« Ich glaube, es lag betrübte Ironie in seinen Worten. Die Rückenmarkpunktion jedenfalls, sogleich notwendig zur Festigung der Diagnose, wie auch, weil sie das einzige Mittel war, dem Kranken Erleichterung zu schaffen, getraute er sich sehr wohl selbst vorzunehmen. Frau Schweigestill, bleich aber rüstig und dem Menschlichen treu wie im {688} mer, hielt das wimmernde Kind im Bette gebeugt, daß Kinn und Knie sich fast berührten, und zwischen den auseinandergegangenen Wirbeln führte Kürbis seine Nadel bis zum Spinalkanal, aus dem tropfenweise die

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