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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.«
    »Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?«
    {693} »Die Neunte Symphonie«, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete.
    Verwirrt und gramvoll begab ich mich hinauf in das Schicksalszimmer. Die Atmosphäre der Krankenstube, medikamentös, dumpfig und reinlich-fade, herrschte dort, obgleich die Fenster offen standen. Doch waren die Läden bis auf einen Spalt herangezogen. Nepomuks Bett war von mehreren Personen umstanden, denen ich die Hand reichte, während meine Augen doch nur auf das sterbende Kind gerichtet waren. Es lag auf der Seite, zusammengekrümmt, Ellbogen und Knie angezogen. Mit hochgeröteten Wangen atmete es einmal tief, und dann hatte man lange auf den nächsten Atemzug zu warten. Die Augen waren nicht völlig geschlossen, aber zwischen den Wimpern war nicht das Blau der Iris zu sehen, sondern nur Schwärze. Es waren die Pupillen, die größer und größer, wenn auch verschieden groß, geworden waren und fast den Farbstern verschlangen. Doch war es noch gut, wenn man ihre spiegelnde Schwärze sah. Zuweilen wurde es weiß im Spalt: Dann preßten die Ärmchen sich enger an die Flanken des Kindes, und der knirschende Krampf verbog, grausam zu sehen, wenn auch vielleicht nicht mehr erlitten, die kleinen Glieder.
    Die Mutter schluchzte. Ich hatte ihre Hand gedrückt und drückte sie wieder. Ja, sie war da, Ursel, Hof Buchels braunäugige Tochter, Adrians Schwester, und aus den harmvollen Zügen der nun 39jährigen traten mir, stärker noch, als ehemals, zu meiner Rührung die väterlichen, die altdeutschen Züge Jonathan Leverkühns entgegen. Mit ihr war ihr Gatte, an den die Depesche gegangen war, und der sie von Suderode abgeholt hatte: Johannes Schneidewein, ein großer, schöner, schlichter Mann im blonden Bart, mit den blauen Augen Nepomuks und von der bieder-bedeutsamen Sprechweise, die Ursula früh von ihm angenommen, und deren Rhythmus wir im Stimmklang des Elfen, an Echo gekannt hatten.
    {694} Wer sonst noch im Zimmer war, außer der ab- und zugehenden Frau Schweigestill, das war die wollige Kunigunde Rosenstiel, welche bei einem Besuch, der ihr erlaubt gewesen, des Knäbleins Bekanntschaft gemacht und es leidenschaftlich in ihr trauerndes Herz geschlossen hatte. Sie hatte damals, mit der Maschine, auf Briefbögen ihrer derben Firma und mit kaufmännischen Undzeichen, einen langen Brief in vorbildlichem Deutsch über ihre Eindrücke an Adrian geschrieben. Nun hatte sie es, die Nackedey aus dem Felde schlagend, durchgesetzt, die Schweigestills und zuletzt Ursel Schneidewein in der Pflege des Kindes ablösen zu dürfen, wechselte seinen Eisbeutel, wusch es mit Alkohol, suchte ihm Medizin und Nahrungssaft einzuflößen und räumte nachts ungern und selten einem andern den Platz an seinem Bette ein …
    Wir hatten, die Schweigestills, Adrian, seine Verwandten, Kunigunde und ich, im Nike-Saal ein wortkarges Abendessen mit einander, von dem öfters eine der Frauen aufstand, um nach dem Kranken zu sehen. Am Sonntag vormittag schon mußte ich, so schwer es mir wurde, Pfeiffering verlassen. Für den Montag hatte ich noch einen ganzen Stapel lateinischer Extemporalien zu korrigieren. Ich schied von Adrian, milde Wünsche auf den Lippen, und wie er mich entließ, war mir lieber, als wie er mich gestern empfangen hatte. Mit einer Art von Lächeln sprach er auf englisch die Worte:
    »Then to the elements. Be free, and fare thou well!«
    Dann wandte er sich rasch von mir.
    Nepomuk Schneidewein, Echo, das Kind, Adrians letzte Liebe, entschlief schon zwölf Stunden später. Die Eltern nahmen den kleinen Sarg mit sich in ihre Heimat.

{695} XLVI
    Beinahe vier Wochen lang habe ich an diesen Aufzeichnungen nicht fortgeschrieben, angehalten erstens durch eine gewisse seelische Erschöpfung nach dem vorstehend Erinnerten, zugleich aber durch die jetzt einander jagenden, nach ihrem logischen Ablauf vorausgesehenen, in gewisser Weise ersehnten und nun doch ein ungläubiges Grauen erregenden Tagesereignisse, die unser unseliges Volk, von Jammer und Schrecken ausgehöhlt, unfähig zu begreifen, in stumpfem Fatalismus über sich ergehen läßt, und denen auch mein von alter Trauer, altem Entsetzen müdes Gemüt hilflos ausgesetzt war.
    Seit Ende März schon – wir schreiben den 25. April dieses Schicksalsjahres 1945 – ist im Westen des Landes unser Widerstand sichtlich in voller Auflösung begriffen.

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