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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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gedenken wollen, das auf dem Herde stand, bei welchem die immer vergebens wartenden Dienerinnen, von der Natur überwältigt, endlich eingeschlafen waren. Als nun der Meister zwischen der zwölften und ersten Stunde zu essen verlangt, hatte er die Mägde denn also schlafend, die Speisen aber verdorrt und verkohlt gefunden und war darüber in den allerheftigsten, das nächtliche Haus um so weniger schonenden Zorn ausgebrochen, als er selbst seine Lautheit nicht hörte. »Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?« hatte er immer wieder gedonnert. Es waren aber der Stunden fünf, sechs gewesen, und die gekränkten Mädchen hatten bei Tagesgrauen das Weite gesucht, einen so ungebärdigen Herrn sich selbst überlassend, der denn also heute kein Mittagessen gehabt, seit vorigen Mittag überhaupt nichts genossen hatte. Statt dessen arbeitete er drinnen in seinem Zimmer, am Credo, am Credo mit der Fuge, – die Jünger hörten es durch die verschlossene Tür, wie er arbeitete. Der Taube sang, heulte und stampfte über dem Credo – es war so schaurig ergreifend zu hören, daß den an der Tür Lauschenden das Blut in den Adern gefror. Da sie sich aber eben in tiefer Scheu hatten entfernen wollen, war jäh die Tür aufgegangen, und Beethoven hatte in ihrem Rahmen gestanden, – welchen Ansehens? Des schrecklichsten! In verwahrloster Kleidung, die Gesichtszüge so verstört, daß es Angst einflößte, die {90} lauschenden Augen voll wirrer Abwesenheit, hatte er sie angestarrt und den Eindruck gemacht, als komme er aus einem Kampf auf Leben und Tod mit allen feindlichen Geistern des Kontrapunkts. Er hatte Ungereimtes gestammelt zunächst und war dann in klagendes Schelten ausgebrochen über die saubere Wirtschaft bei ihm, daß alles davongelaufen, daß man ihn hungern lasse. Sie hatten ihn zu besänftigen gesucht, der Eine war ihm bei der Toilette behilflich gewesen, der Andere gelaufen, im Wirtshaus eine restaurierende Mahlzeit bereit zu stellen … Erst drei Jahre später war die Messe fertig geworden.
    Wir kannten sie nicht, wir hörten eben nur von ihr. Aber wer wollte leugnen, daß es bildend sein kann, von unbekannter Größe auch nur zu hören? Allerdings hängt vieles ab von der Art, wie davon gesprochen wird. Aus Wendell Kretzschmars Vorlesung nach Hause gehend, hatten wir das Gefühl, die Missa gehört zu haben, zu welcher Illusion nicht wenig das Bild des übernächtigen und ausgehungerten Meisters im Türrahmen beitrug, das er uns eingeprägt hatte.
    Das war Kretzschmar über »Beethoven und die Fuge«, und wahrlich, es gab uns Stoff für einiges Gespräch auf dem Heimweg – Stoff auch zum Miteinanderschweigen und stillen, vagen Nachsinnen über das Neue, Ferne, Große, das als manchmal flink dahinlaufende, manchmal schrecklich hängenbleibende Rede in unsere Seelen gedrungen war. Ich sage: in unsere; aber natürlich ist es nur diejenige Adrians, die ich dabei im Sinne habe. Wovon ich hörte, was ich aufnahm, ist gänzlich irrelevant. Was ihn, wie sich beim Nachhausegehen und am nächsten Tag auf dem Schulhof zeigte, hauptsächlich impressioniert hatte, war Kretzschmars Unterscheidung zwischen kultischen und kulturellen Epochen und seine Äußerung gewesen, daß die Säkularisierung der Kunst, ihre Trennung vom Gottesdienst, einen nur oberflächlichen und episodischen Charakter trage. Der Ober-Sekundaner zeigte sich ergriffen von {91} dem Gedanken, den der Vortragende garnicht ausgesprochen, aber in ihm entzündet hatte, daß die Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen, ihre Befreiung und Erhöhung ins Einsam-Persönliche und Kulturell-Selbstzweckhafte sie mit einer bezuglosen Feierlichkeit, einem absoluten Ernst, einem Leidenspathos belastet habe, das in Beethovens schreckhafter Erscheinung im Türrahmen zum Bilde werde, und das nicht ihr bleibendes Schicksal, ihre immerwährende Seelenverfassung zu sein brauche. Man höre den jungen Menschen! Noch fast ohne praktisch-reale Erfahrung auf dem Gebiete der Kunst, phantasierte er im Leeren und mit altklugen Worten von der wahrscheinlich bevorstehenden Wiederzurückführung ihrer heutigen Rolle auf eine bescheidenere, glücklichere im Dienst eines höheren Verbandes, der nicht gerade, wie einst, die Kirche zu sein brauche. Was er denn sein sollte, wußte er nicht zu sagen. Aber daß die Kultur-Idee eine geschichtlich transitorische Erscheinung sei; daß sie sich auch wieder in anderem verlieren könne; daß ihr nicht notwendig die Zukunft gehöre,

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