Doktor Faustus
anfänglichsten Zustände pietätvoll zu gedenken und sie feierlich beschwörend heraufzurufen, kurz, ihre Elemente zu zelebrieren. Sie feiere damit, sagte er, ihre kosmische Gleichnishaftigkeit; denn jene Elemente seien gleichsam die ersten und einfachsten Bausteine der Welt, ein Parallelismus, den ein philosophierender Künstler jüngst vergangener Tage – es war wieder Wagner, von dem er sprach, – sich klug zunutze gemacht habe, indem er die Grundelemente der Musik in seinem kosmogonischen Mythos vom »Ring des Nibelungen« sich mit denjenigen der Welt habe decken lassen. Bei ihm habe der Anfang aller Dinge seine Musik: die Musik des Anfangs sei das und auch der Anfang der Musik, der Es-dur-Dreiklang der strömenden Rheinestiefe, die sieben Primitiv-Akkorde, aus denen, wie aus cyklopischen Quadern von Urgestein, die Burg der Götter sich aufbaue. Geistreich in großem Stil, habe er den Mythos der Musik zugleich mit demjenigen der Welt gegeben, habe, indem er die Musik an die Dinge band und diese in Musik sich aussprechen ließ, einen Apparat sinniger Simultaneität geschaffen, – höchst großartig und bedeutungsschwer, wenn auch am Ende wohl ein wenig zu gescheit im Vergleich mit gewissen Offenbarungen des Elementaren in der Kunst reiner Musiker, Beethovens und Bachs, zum Exempel in dem Präludium der Cello-Suite dieses letzteren, – auch einem Es-dur-Stück und aufgebaut auf primitive Dreiklänge. Und er gedachte Anton Bruckners, der es geliebt habe, sich an der Orgel oder am Klavier durch
das einfache Aneinanderreihen von Dreiklängen
zu erquicken. »Gibt es denn etwas Innigeres, Herrlicheres«, habe er gerufen, »als eine solche Folge bloßer Dreiklänge? Ist es nicht {97} wie ein reinigendes Seelenbad?« – Auch dieses Wort, meinte Kretzschmar, sei ein denkwürdiger Beleg für die Neigung der Musik, ins Elementare zurückzutauchen und sich selbst in ihren Grundanfängen zu bewundern. Ja, rief der Vortragende, es liege im Wesen dieser seltsamen Kunst, daß sie jeden Augenblick imstande sei, von vorn zu beginnen, aus dem Nichts, bar jeder Kenntnis ihrer schon durchlaufenen Kulturgeschichte, des durch die Jahrhunderte Errungenen, sich neu zu entdecken und wieder zu erzeugen. Dabei durchlaufe sie dann dieselben Primitiv-Stadien, wie in ihren historischen Anfängen, und könne auf kurzer Bahn, abseits von dem Haupt-Gebirgsstock ihrer Entwicklung, einsam und unbelauscht von der Welt, wunderliche Höhen absonderlichster Schönheit erreichen. Und nun erzählte er uns eine Geschichte, die sich auf die skurrilste und nachdenklichste Weise in den Rahmen seiner diesmaligen Betrachtungen fügte.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte in seiner Heimat Pennsylvania eine deutsche Gemeinde frommer Sektierer, Wiedertäufer nach ihrem Ritus, geblüht. Ihre führenden, geistlich angesehensten Mitglieder hatten als Cölibatäre gelebt und waren dafür mit dem Namen der »Einsamen Brüder und Schwestern« geehrt worden. Die Mehrzahl hatte mit dem Stande der Ehe eine exemplarisch reine und gottselige, arbeitsam streng geregelte und diätetisch gesunde Lebensweise voller Verzicht und Züchtigkeit zu verbinden gewußt. Ihrer Siedelungen waren zwei gewesen: die eine mit Namen Ephrata in Lancaster County, die andere in Franklin County, Snowhill genannt; und alle hatten in Ehrfurcht aufgeblickt zu ihrem Oberhaupt, Hirten und geistlichen Vater, dem Begründer der Sekte, einem Mann namens Beißel, in dessen Charakter sich innige Gottergebenheit mit den Eigenschaften eines Seelenführers und Menschenbeherrschers, schwärmerische Religiosität mit einer kurz angebundenen Energie vereinigt hatten.
{98} Johann Conrad Beißel war von sehr armen Eltern aus Eberbach in der Pfalz gebürtig und früh verwaist. Er hatte das Bäckergewerbe erlernt und als wandernder Handwerksbursche mit Pietisten und Anhängern der baptistischen Brüderschaft Beziehungen angeknüpft, die schlummernde Neigungen, den Hang zu sonderlichem Wahrheitsdienst und freier Gottesüberzeugung in ihm geweckt hatten. Hierdurch einer Sphäre gefährlich nahe gebracht, die bei ihm zulande als ketzerisch galt, hatte der Dreißigjährige beschlossen, die Unduldsamkeit der alten Erde zu fliehen und war nach Amerika ausgewandert, wo er an verschiedenen Orten, in Germantown und Conestoga, eine Weile das Handwerk eines Webers geübt hatte. Dann aber war ein neuer Schub religiöser Ergriffenheit über ihn gekommen, und er war dem inneren Rufe gefolgt, in der Wildnis als
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