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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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die kontrapunktische Beziehung so gestaltet hätten, daß eine Stimme der anderen gleich gewesen sei, wenn man sie von rückwärts gelesen habe, so habe das mit dem sinnlichen Klange nicht viel zu tun gehabt, er wolle sich ver {94} wetten, daß die Wenigsten den Spaß gehörweise vermerkt hätten, viel eher dem Auge des Zünftlers sei er zugedacht gewesen. So habe Orlandus Lassus in der Hochzeit von Kana für die sechs Wasserkrüge sechs Stimmen gebraucht, was man ihm auch beim Sehen besser habe nachrechnen können, als beim Hören; und in der Johannispassion des Joachim von Burck habe »der Diener
einer
«, der Jesu einen Backenstreich gab, nur
eine
Note, auf das »zween« aber in der nachfolgenden Phrase »Mit ihm zween andere« fielen deren
zwei
.
    Er führte noch mehrere solche pythagoräischen, dem Auge mehr als dem Ohre zugedachten, das Ohr gewissermaßen hintergehenden Scherze an, in denen die Musik sich je und je gefallen habe, und rückte damit heraus, daß er sie, in letzter Analyse, einer gewissen eingeborenen Unsinnlichkeit, ja Anti-Sinnlichkeit dieser Kunst zuschreibe, einer heimlichen Neigung zur Askese. In der Tat sei sie die geistigste aller Künste, was sich schon daran erweise, daß Form und Inhalt in ihr, wie in keiner anderen, in einander verschlungen und schlechthin ein und dasselbe seien. Man sage wohl, die Musik »wende sich an das Ohr«; aber das tue sie nur bedingtermaßen, nur insofern nämlich, als das Gehör, wie die übrigen Sinne, stellvertretendes Mittel- und Aufnahmeorgan für das Geistige sei. Vielleicht, sagte Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, eine Kundry, die nicht wolle, was sie tue, und weiche Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge. Ihre mächtigste sinnliche Verwirklichung finde sie als orchestrale Instrumentalmusik, wo sie denn, durch das Ohr, alle Sinne zu affizieren scheine und das Genußreich der Klänge {95} mit denen der Farben und Düfte opiatisch verschmelzen lasse. Hier so recht sei sie die Büßerin in der Hülle des Zauberweibes. Es gebe aber ein Instrument, das heißt: ein musikalisches Verwirklichungsmittel, durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei das Klavier, ein Instrument, das ein solches im Sinne der anderen gar nicht sei, da ihm alles Spezialistische abgehe. Es könne zwar, wie jene, solistisch behandelt und zum Mittel des Virtuosentums werden, aber das sei ein Sonderfall und, wenn man es überaus genau nehme, ein Mißbrauch. Das Klavier sei, recht gesehen, der direkte und souveräne Repräsentant der Musik selbst in ihrer Geistigkeit, und darum müsse man es erlernen. Aber Klavierunterricht sollte nicht, oder nicht wesentlich und nicht zuerst
und
zuletzt, Unterricht in einer speziellen Fertigkeit sein, sondern Unterricht in der –
    »Musik!« rief eine Stimme aus dem winzigen Publikum, denn der Redner konnte mit diesem letzten und vorher so oft gebrauchten Wort durchaus nicht fertig werden, sondern blieb mummelnd an seinem Eröffnungslaute hängen.
    »Allerdings!« sagte er befreit, trank einen Schluck Wasser und ging. –
    Nun aber möge man es mir verzeihen, wenn ich ihn noch einmal auftreten lasse. Denn noch um eine vierte Lesung ist es mir zu tun, die Wendell Kretzschmar uns bot, und eher, in der Tat, hätte ich eine oder die andere der vorigen beiseite lassen können, als diese, da, um auch hier von mir nicht zu reden, keine einen so tiefen Eindruck auf Adrian machte, wie eben sie.
    Ich kann mich ihres Titels nicht mehr mit voller Genauigkeit entsinnen. Sie hieß »Das Elementare in der Musik« oder »Die Musik und das Elementare« oder »Die musikalischen Elemente« oder noch etwas anders. Auf jeden Fall spielte die Idee des Elementaren, des Primitiven, des Uranfänglichen die ent {96} scheidende Rolle darin, sowie der Gedanke, daß unter allen Künsten gerade die Musik, zu einem wie hoch komplizierten, reich und fein entwickelten Wunderbau von historischer Creation sie im Lauf der Jahrhunderte emporgewachsen sei, niemals sich einer frommen Neigung entschlagen habe, ihrer

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