Doktor Faustus
diesen Gedanken hatte er entschieden aus Kretzschmars Vortrag ausgesondert.
»Aber die Alternative«, warf ich ihm ein, »zur Kultur ist die Barbarei.«
»Erlaube mir«, sagte er. »Die Barbarei ist das Gegenteil der Kultur doch nur innerhalb der Gedankenordnung, die diese uns an die Hand gibt. Außer dieser Gedankenordnung mag das Gegenteil ganz etwas anderes oder überhaupt kein Gegenteil sein.«
Ich ahmte Luca Cimabue nach, indem ich »Santa Maria!« sagte und mir die Brust bekreuzte. Er lachte kurz auf.
Ein andermal äußerte er:
»Für ein Kultur-Zeitalter scheint mir eine Spur zuviel die Rede zu sein von Kultur in dem unsrigen, meinst du nicht? Ich möchte wissen, ob Epochen, die Kultur besaßen, das Wort {92} überhaupt gekannt, gebraucht, im Munde geführt haben. Naivität, Unbewußtheit, Selbstverständlichkeit scheint mir das erste Kriterium der Verfassung, der wir diesen Namen geben. Was uns abgeht, ist eben dies, Naivität, und dieser Mangel, wenn man von einem solchen sprechen darf, schützt uns vor mancher farbigen Barbarei, die sich mit Kultur, mit sehr hoher Kultur sogar, durchaus vertrug. Will sagen: unsere Stufe ist die der Gesittung, – ein sehr lobenswerter Zustand ohne Zweifel, aber keinem Zweifel unterliegt es auch wohl, daß wir sehr viel barbarischer werden müßten, um der Kultur wieder fähig zu sein. Technik und Komfort – damit
redet
man von Kultur, aber man hat sie nicht. Willst du mich hindern, in der homophon-melodischen Verfassung unserer Musik einen Zustand musikalischer Gesittung zu sehen – im Gegensatz zur alten kontrapunktisch-polyphonen Kultur?«
In solchen Reden, mit denen er mich neckte und irritierte, war vieles bloß nachgesprochen. Aber er hatte eine Art der Aneignung und persönlichen Reproduktion des Aufgegriffenen, die seinem Nachsprechen, wenn nicht alles Knabenhaft-Unselbständige, so doch alles Ridiküle nahm. Viel kommentierte er auch – oder kommentierten wir in bewegtem Wechselgespräch – einen Vortrag Kretzschmars, der »Die Musik und das Auge« hieß, – ebenfalls eine Darbietung, die größeren Zulauf verdient hätte. Wie der Titel sagt, sprach unser Redner darin von seiner Kunst, insofern sie sich an den Gesichtssinn, oder doch
auch
an diesen, wendet, was sie, so führte er aus, schon damit tue, daß man sie aufschreibe: durch die Notierung also, die Tonschrift, die seit den Tagen der alten Neumen, diesen Fixierungen aus Strichen und Punkten, welche die Klangbewegung ungefähr angedeutet hätten, immer und mit wachsender Sorgfalt geübt worden sei. Und nun waren seine Nachweise höchst unterhaltend – und auch schmeichelhaft, da es uns eine gewisse Lehrbuben- und Pinselwäscher-Intimität mit {93} der Musik vorspiegelte, – wie manche Redensart des Musikanten-Jargons garnicht aus dem Akustischen, sondern aus dem Visuellen, dem Notenbild abgeleitet sei; wie man von occhiali, Brillenbässen spreche, weil die gebrochenen Trommelbässe, halbe Noten, deren Hälse paarweise durch Balken verbunden sind, ein brillenähnliches Bild ergeben; oder wie man gewisse wohlfeile, sich stufenweis und in gleichen Intervallen an einander reihende Sequenzen (er schrieb uns Beispiele auf die Tafel) »Schusterflecke« nenne. Er sprach von dem bloßen Augenschein notierter Musik und versicherte, daß dem Kenner ein Blick auf das Schriftbild genüge, um von dem Geist und Wert einer Komposition einen entscheidenden Eindruck zu empfangen. So sei es ihm vorgekommen, daß ein besuchender Kollege, sein Zimmer betretend, wo gerade ein ihm vorgelegtes dilettantisches Machwerk auf dem Pulte aufgeschlagen gewesen sei, noch an der Tür ausgerufen habe: »Ja, um Gotteswillen, was für einen Mist hast du denn da?!« – Andererseits schilderte er uns den entzückenden Genuß, den schon das optische Bild einer Partitur von Mozart dem geübten Auge gewähre, die Klarheit der Disposition, die schöne Verteilung der Instrumentengruppen, die geistreich wandlungsvolle Führung der melodischen Linie. Ein Tauber, rief er aus, ganz unerfahren im Klange, müßte seine Freude an diesen hellen Gesichten haben. »To hear with eyes belongs to love's fine wit«, zitierte er aus einem Shakespeare-Sonett und behauptete, zu allen Zeiten hätten die Komponisten in ihre Satzschriften manches hineingeheimnißt, was mehr für das lesende Auge, als für das Ohr bestimmt gewesen. Wenn etwa die niederländischen Meister des polyphonen Styls bei ihren unendlichen Kunststücken der Stimmverschränkung
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