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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Bestandteile zur Stimme. Ich finde, man sollte nie in einer akkordischen Verbindung von Tönen etwas anderes sehen als das Resultat der Stimmenbewegung und in dem akkordbildenden Ton die Stimme ehren, – den Akkord aber
nicht
ehren, sondern ihn als subjektiv-willkürlich verachten, solange er sich nicht durch den Gang der Stimmführung, das heißt: polyphonisch ausweisen kann. Der Akkord ist kein harmonisches Genußmittel, sondern er ist Polyphonie in sich selbst, und die Töne, die ihn bilden, sind Stimmen. Ich behaupte aber: sie sind das desto mehr, und desto entschiedener ist der polyphone Charakter des Akkordes, je dissonanter er ist. Die Dissonanz ist der Gradmesser seiner polyphonen Würde. Je stärker ein Akkord dissoniert, je mehr von einander abstechende und auf differenzierte Weise wirksame Töne er in sich enthält, desto polyphoner ist er, und desto ausgesprochener hat schon in der Gleichzeitigkeit des Zusammenklangs jeder einzelne Ton das Gepräge der Stimme.«
    Ich blickte ihn längere Zeit humoristisch-fatal mit dem Kopfe nickend an.
    {113} »Du kannst gut werden«, sagte ich endlich.
    »Ich?« erwiderte er, nach seiner Art sich abwendend. »Ich spreche ja von der Musik, nicht von mir, – ein kleiner Unterschied.«
    Er hielt gar sehr auf diesen Unterschied und sprach über Musik nur wie über eine fremde Macht, ein wunderliches, ihn aber persönlich nicht berührendes Phänomen, sprach von ihr kritisch distanziert und gewissermaßen von oben herab, – aber er sprach von ihr und hatte desto mehr Stoff dazu, als in diesen Jahren, dem letzten, das ich mit ihm auf der Schule verbrachte, und meinen ersten Studentensemestern, seine musikalische Erfahrung, seine Kenntnis der musikalischen Welt-Literatur sich rapide erweiterte, so daß freilich bald der Abstand zwischen dem, was er kannte und was er konnte, jener von ihm betonten Unterscheidung eine Art von Augenfälligkeit verlieh. Denn während er als Pianist sich an Stücken versuchte wie Schumanns »Kinderszenen« und den beiden kleinen Sonaten von Beethoven, opus 45, und als Musikschüler sehr brav Choral-Themen so harmonisierte, daß das Thema in die Mitte der Akkorde zu liegen kam, gewann er mit großer Schnelle, ja fast überstürzter und überlastender Weise einen zwar inkohärenten, im einzelnen aber intensiven Überblick über die vorklassische, klassische, romantische und spätromantisch-moderne Produktion, – natürlich durch Kretzschmar, der selbst zu verliebt war in alles – aber auch alles – in Tönen Geschaffene, als daß er nicht darauf hätte brennen sollen, einen Schüler, der zu hören wußte wie Adrian, in diese gestaltungsvolle, an Stilen, Nationalcharakteren, Traditionswerten und Persönlichkeitsreizen, historischen und individuellen Abwandlungen des Schönheitsideals unerschöpflich reiche Welt einzuführen: durch Vorspielen am Klavier, versteht sich – ganze Unterrichtsstunden, und zwar unbekümmert verlängerte Unterrichtsstunden, gingen einfach damit hin, daß Kretzschmar dem {114} Jüngling vorspielte, wobei er von einem zum andern, vom Hundertsten ins Tausendste kam, hineinschreiend, kommentierend, charakterisierend, wie wir es von seinen »gemeinnützigen« Vorträgen her kennen, – man konnte in der Tat nicht fesselnder, eindringlicher, lehrreicher vorgespielt bekommen.
    Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß die Gelegenheiten, Musik zu hören, für einen Bewohner von Kaisersaschern außerordentlich spärlich waren. Wir hätten, wenn ich von den kammermusikalischen Unterhaltungen bei Nikolaus Leverkühn und den Orgelkonzerten im Dom absehe, praktisch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn höchst selten verirrte ein fahrender Virtuos oder ein auswärtiges Orchester mit seinem Dirigenten sich in unser Städtchen. Hier sprang nun Kretzschmar ein und sättigte mit seinem lebendigen Vorspielen, wenn auch nur vorläufig und andeutend, ein teils unbewußtes, teils uneingestandenes Bildungsverlangen meines Freundes, – so ausgiebig, daß ich von einer Sturzwelle musikalischen Erlebens sprechen möchte, die damals seine junge Rezeptivität überschwemmte. Nachher kamen Jahre der Verleugnung und Dissimulation, wo er viel weniger Musik aufnahm, als damals, obgleich sich weit günstigere Gelegenheit dazu bot.
    Es begann sehr natürlich damit, daß der Lehrer ihm an Werken von Clementi, Mozart und Haydn den Bau der Sonate demonstrierte. Aber nicht lange, so kam er von dieser auf die Orchester-Sonate, die Symphonie und

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