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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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großem Vergnügen die Schriften Sternes las, namentlich aber die Werke Shakespeares, von denen der Organist ein intimer Kenner und leidenschaftlicher Verehrer war. Shakespeare und Beethoven zusammen bildeten an seinem geistigen Himmel ein alles überleuchten {108} des Zwillingsgestirn, und sehr liebte er es, seinem Schüler merkwürdige Verwandtschaften und Übereinstimmungen in den Schaffensprinzipien und -methoden der beiden Giganten nachzuweisen, – ein Beispiel dafür, wie weit der erzieherische Einfluß des Stotterers auf meinen Freund über den eines Klavierlehrers hinausging. Als solcher hatte er ihm kindliche Anfangsgründe zu überliefern, und in sonderbarem Widerspruch dazu stand es, daß er ihn gleichzeitig und sozusagen nebenbei mit den größten Dingen in erste Berührung brachte, ihm die Reiche der Weltliteratur eröffnete, ihn durch Neugier erweckende Vorberichte in die ungeheueren Gebreite des russischen, englischen, französischen Romans verlockte, ihn zur Beschäftigung mit der Lyrik von Shelley und Keats, Hölderlin und Novalis anregte, ihm Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart zu lesen gab. Durch seine Briefe sowohl wie mündlich, wenn ich in den Hochschulferien nach Hause kam, ließ Adrian mich an diesen Errungenschaften teilnehmen, und ich will nicht leugnen, daß ich mir trotz seiner mir bekannten Raschheit und Leichtigkeit zuweilen Sorgen machte der Überbelastung wegen, die diese doch wohl verfrühten Erkundungen für sein junges System bedeuteten. Unzweifelhaft bildeten sie ein bedenkliches Plus zu den Vorbereitungen auf die Abgangsexamina, in denen er stand, und von denen er freilich wegwerfend redete. Oft sah er blaß aus – und das nicht nur an Tagen, wenn die ererbte Migräne ihren trübenden Druck auf ihn ausübte. Augenscheinlich hatte er zu wenig Schlaf, denn zum Lesen verwendete er Nachtstunden. Ich unterließ auch nicht, Kretzschmarn meine Besorgnis einzugestehen und bei ihm anzufragen, ob er nicht mit mir in Adrian eine Natur sähe, die geistig eher zurückzuhalten, als vorwärtszustoßen sei. Aber der Musiker, obgleich soviel älter als ich, gab sich ganz als Parteigänger ungeduldig-erkenntnishungriger, sich selbst nicht schonender Jugend und war {109} überhaupt der Mann einer gewissen idealistischen Härte und Gleichgültigkeit gegen den Körper und seine »Gesundheit«, die er für einen recht philiströsen, um nicht zu sagen: feigen Wert erachtete.
    »Ja, lieber Freund«, sagte er, (und ich lasse die Hemmungsvorkommnisse aus, die seine Polemik beeinträchtigten), »wenn Sie für Gesundheit sind, – mit Geist und Kunst hat die denn wohl freilich nicht viel zu tun, sie steht sogar in einem gewissen Kontrast dazu, und jedenfalls hat das eine ums andre sich nie viel gekümmert. Den Onkel Hausarzt zu machen, der vor verfrühter Lektüre warnt, weil sie nämlich für ihn all seiner Lebtage verfrüht wäre, dazu bin ich nicht da. Auch find' ich nichts taktloser und brutaler, als begabte Jugend beständig auf ihre ›Unreife‹ festnageln zu wollen und ›Das ist noch nichts für dich‹ das dritte Wort sein zu lassen. Soll doch er das beurteilen! Soll er doch überhaupt sehen, wie er durchkommt. Daß dem die Zeit lang wird, bis er aus der Eischale dieses altdeutschen Marktfleckens schlüpfen kann, ist nur zu begreiflich.«
    Da hatte ich es, und da hatte es Kaisersaschern. Ich ärgerte mich, denn der Standpunkt des Onkel Doktors war ja gewiß auch der meine nicht. Zudem sah und begriff ich sehr wohl, daß Kretzschmar sich nicht nur nicht als Klavierlehrer und Trainer in einer Spezial-Technik genügte, sondern daß ihm auch die Musik selbst, das Ziel dieses Unterrichts, wenn sie einseitig und ohne Zusammenhang mit anderen Gebieten der Form, des Gedankens und der Bildung betrieben wurde, als ein menschlich verkümmernder Spezialismus erschien.
    Tatsächlich pflegten, nach allem, was ich von Adrian hörte, seine Klavierstunden in Kretzschmars altertümlicher Amtswohnung beim Dom zur guten Hälfte mit Unterhaltungen über Philosophie und Dichtung hinzugehen. Trotzdem konnte ich, solange ich noch mit ihm auf der Schule war, seine Fortschritte buchstäblich von Tag zu Tag verfolgen. Seine auf {110} eigene Hand gewonnene Vertrautheit mit der Tastatur und den Tonarten beschleunigte natürlich seine ersten Schritte. Sein Skalen-Üben war gewissenhaft, aber eine Klavierschule wurde meines Wissens nicht benutzt, sondern Kretzschmar ließ ihn einfach gesetzte Choräle

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