Doktor Faustus
fiel Adrians erste Bekanntschaft mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes, welche nach leidlich trockenen Vorspielen in Schubert wunderbar entspringt, um dann durch Schumann, Robert Franz, Brahms, Hugo Wolf und Mahler ihre national durchaus unvergleichlichen Triumphe zu feiern. Eine herrliche Begegnung! Ich war glücklich, ihr beiwohnen, an ihr teilnehmen zu können. Eine Perle und ein Mirakel wie Schumanns »Mondnacht« und die liebliche Sensitivität ihrer Sekunden-Begleitung; andere Eichendorff-Kompositionen desselben Meisters, wie jenes alle romantischen Gefahren und Bedrohungen der Seele beschwörende Stück, das mit der unheimlich moralischen Warnung endigt: »Hüte dich! Sei wach und munter!«; ein Fund und Treffer wie Mendelssohns »Auf Flügeln des Gesanges«, die Eingebung eines Musikers, den Adrian sehr vor mir herauszustreichen pflegte, indem er ihn den metrisch Reichsten von allen nannte, – welche fruchtbaren Gesprächsgegenstände! Bei Brahms, dem Liederkomponisten, schätzte mein Freund über alles die eigentümlich strenge und neue Stilgebung in den über Bibeltexte gesetzten »Vier ernsten Gesängen«, besonders die religiöse Schönheit des »O Tod, wie bitter bist du«. Schuberts immer zwielichtiges, vom Tode berührtes Genie aber suchte er dort mit Vorliebe auf, wo es einem gewissen nur halb definierten, aber unabwendbaren Einsamkeitsverhängnis zu höchstem Ausdruck verhilft, wie in dem großartig eigenbrötlerischen »Ich komme vom Gebirge her« des Schmidt von Lübeck, und jenem »Was vermeid' ich denn die Wege, wo die andren Wandrer gehn« aus der »Winterreise« mit dem allerdings ins Herz schneidenden Strophenbeginn:
»Habe ja doch nichts begangen,
Daß ich Menschen sollte scheu'n –«.
{118} Diese Worte habe ich ihn, nebst den anschließenden:
»Welch ein törichtes Verlangen
Treibt mich in die Wüstenei'n?«
die melodische Diktion andeutend, vor sich hinsprechen hören und dabei, zu meiner unvergessenen Bestürzung, Tränen in seine Augen treten sehen.
Selbstverständlich litt sein Instrumentalsatz unter dem Mangel an sinnlicher Erfahrung, und Kretzschmar ließ es sich angelegen sein, dem abzuhelfen. In den Michaelis-, den Weihnachtsferien fuhr er mit ihm (die Zustimmung des Onkels eingeholt) zu vorfallenden Opern- und Konzertaufführungen in unferne Städte: nach Merseburg, nach Erfurt, sogar nach Weimar, damit ihm die klangliche Verwirklichung dessen zuteil würde, was er im bloßen Auszuge aufgenommen, allenfalls im Notenbild überblickt hatte. So mochte er die kindlich feierliche Esoterik der »Zauberflöte« in seine Seele schließen; die bedrohliche Anmut des »Figaro«; die Dämonie der tiefen Klarinetten in Webers ruhmreich gehobenem Singspiel vom Freischützen; verwandte Gestalten schmerzlich düsterer Ausgeschlossenheit wie die Hans Heilings und des Fliegenden Holländers, endlich die erhabene Humanität und Brüderlichkeit des »Fidelio« mit der großen Ouvertüre in C, die vor dem Schlußbilde gespielt wurde. Diese nun war denn doch, wie man erkennen konnte, das Imponierendste und Beschäftigendste von allem, was seine junge Empfänglichkeit berührt hatte. Tagelang hielt er nach jenem auswärtigen Abend die Partitur der »Nummer 3« an sich und las darin, wo er ging und stand.
»Lieber Freund«, sagte er, »wahrscheinlich hat man nicht auf mich gewartet, daß ich es feststellte, aber das ist ein vollkommenes Musikstück! Klassizismus, – ja; raffiniert ist es in keinem Zuge, aber es ist groß. Ich sage nicht:
denn
es ist groß, weil es auch raffinierte Größe gibt, aber die ist im Grunde viel {119} familiärer. Sag', was hältst du von der Größe? Ich finde, es hat sein Unbehagliches, ihr so Aug' in Aug' gegenüber zu stehen, es ist eine Mutprobe, – kann man den Blick denn eigentlich aushalten? Man hält ihn nicht aus, man hängt an ihm. Laß dir sagen, ich neige mehr und mehr zu dem Eingeständnis, daß es schon etwas Eigentümliches ist um euere Musik. Eine Bekundung höchster Tatkraft – nichts weniger als abstrakt, aber gegenstandslos, einer Tatkraft im Reinen, im klaren Äther, – wo kommt denn sowas im Weltall noch einmal vor! Wir Deutschen haben aus der Philosophie die Redewendung ›an sich‹ übernommen und brauchen sie alle Tage, ohne uns viel Metaphysik dabei zu denken. Aber hier hast du's, solche Musik ist die Tatkraft an sich, die Tatkraft selbst, aber nicht als Idee, sondern in ihrer Wirklichkeit. Ich gebe dir zu bedenken,
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