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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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und – so wunderlich sie sich auf dem Klaviere ausnahmen – vierstimmige Psalmen von Palestrina spielen, bestehend aus reinen Akkorden nebst etwelchen harmonischen Spannungen und Kadenzen; dazu, etwas später, kleine Präludien und Fughetten von Bach, zweistimmige Inventionen von ebendemselben, die Sonata facile von Mozart, einsätzige Sonaten von Scarlatti. Außerdem ließ er es sich nicht verdrießen, selbst kleine Stücke, Märsche und Tänze für ihn zu schreiben, teils zum Alleinspiel, teils zu vierhändiger Ausführung, wobei das musikalische Gewicht im Secondo-Part lag, während der erste, für den Schüler bestimmte, ganz leicht gehalten war, so daß diesem die Genugtuung wurde, sogar führend an einer Produktion teilzunehmen, die sich als Ganzes auf einer höheren technischen Ausbildungsstufe, als der seinen, bewegte.
    Alles in allem hatte das etwas von Prinzenerziehung, und ich erinnere mich, daß ich neckend dies Wort im Gespräch mit dem Freunde gebraucht, erinnere mich auch, wie er dabei mit dem ihm eigentümlichen kurzen Auflachen den Kopf abwandte, als wollte er's nicht gehört haben. Zweifellos war er dem Lehrer dankbar für einen Unterrichtsstil, der dem Umstande Rechnung trug, daß der Schüler nach seinem allgemeinen geistigen Entwicklungsstande nicht auf die kindliche Stufe der Ausbildung gehörte, die er in diesem spät ergriffenen Fache einnahm. Kretzschmar hatte nichts dagegen und begünstigte es sogar, daß dieser von Gescheitheit vibrierende Jüngling auch musikalisch vorauseilte und sich mit Dingen zu schaffen machte, die ein pedantischer Mentor als Allotria verpönt haben würde. Denn kaum kannte er die Noten, als er auch schon zu {111} schreiben und auf dem Papier mit Akkorden zu experimentieren begann. Die Manie, die er damals entwickelte: sich beständig musikalische Probleme auszudenken, die er wie Schachaufgaben löste, konnte Besorgnis einflößen, da die Gefahr nahe lag, daß er dieses Ersinnen und Bewältigen technischer Schwierigkeiten bereits für Komponieren hielt. So verbrachte er Stunden damit, auf möglichst knappem Raum Akkorde, die zusammen alle Töne der chromatischen Leiter enthielten, zu verbinden, und zwar ohne daß die Akkorde chromatisch verschoben wurden und ohne, daß sich bei der Verbindung Härten ergaben. Oder er gefiel sich darin, sehr starke Dissonanzen zu konstruieren, und alle möglichen Auflösungen dafür zu erfinden, die aber, eben weil der Akkord so viele widersprechende Töne enthielt, nichts mit einander zu tun hatten, so daß jener bittere Klang, einem Zauber-Sigel gleich, Beziehungen zwischen den entferntesten Klängen und Tonarten stiftete.
    Eines Tages brachte der Anfänger in bloßer Harmonielehre Kretzschmarn, zu dessen Erheiterung, die auf eigene Hand gemachte Entdeckung des doppelten Kontrapunkts. Will sagen: er gab ihm zwei simultane Stimmen zu lesen, von denen jede sowohl Ober- wie Unterstimme sein konnte und die also vertauschbar waren. »Hast du den dreifachen heraus«, sagte Kretzschmar, »so behalt ihn für dich. Ich will nichts wissen von deinen Voreiligkeiten.«
    Er behielt viel für sich und ließ nur mich allenfalls, in gelockerten Augenblicken, teilnehmen an seinen Spekulationen, – seiner Vertiefung besonders in das Problem der Einheit, Vertauschbarkeit, Identität von Horizontale und Vertikale. Bald besaß er eine in meinen Augen unheimliche Fertigkeit darin, melodische Linien zu erfinden, deren Töne man übereinanderstellen, simultan machen, in komplizierte Harmonien zusammenfalten konnte – und umgekehrt vieltönige Akkorde zu gründen, die in die melodische Horizontale auseinanderzulegen waren.
    {112} Auf dem Schulhof, zwischen einer griechischen Stunde und einer in Trigonometrie, sprach er mir wohl, an den Vorsprung der glasierten Ziegelmauer gelehnt, von diesen magischen Unterhaltungen seiner Mußezeit: von der Umwandlung des Intervalls in den Akkord, die ihn beschäftigte wie nichts anderes, des Horizontalen also ins Vertikale, des Nacheinanders ins Gleichzeitige. Gleichzeitigkeit, behauptete er, sei dabei eigentlich das Primäre, denn der Ton selbst, mit seinen näheren und entfernteren Obertönen, sei ein Akkord und die Skala nur die analytische Auseinanderlegung des Klanges in die horizontale Reihe.
    »Aber mit dem eigentlichen, aus mehreren Tönen bestehenden Akkord ist es doch etwas anderes. Ein Akkord will fortgeführt sein, und sobald du ihn weiterführst, ihn in einen anderen überleitest, wird jeder seiner

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