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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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führte nun, in der Klavier-Abstraktion, dem Lauschenden, mit zusammengezogenen Brauen und geöffneten Lippen Beobachtenden die verschiedenen zeitlichen und persönlichen Abwandlungen dieser reichsten, zu Sinn und Geist vielfältigst sprechenden Erscheinungsform der absoluten Klangschöpfung vor, spielte ihm Instrumentalwerke von Brahms und Bruckner, Schubert, Robert Schumann und von Neueren und Neuesten, dazwischen solche von Tschaikowsky, Borodin und Rimskij-Korssakow, von An {115} ton Dvořák, Berlioz, César Franck und Chabrier, wobei er durch laute Erläuterungen beständig seine Einbildungskraft aufforderte, den pianistischen Schatten orchestral zu beleben: »Cello-Kantilene!« rief er. »Das müssen Sie sich gezogen denken! Fagott-Solo! Und die Flöte macht diese Fiorituren dazu! Paukenwirbel! Das sind die Posaunen! Hier Einsatz der Violinen! Lesen Sie's in der Partitur nach! Die kleine Trompeten-Fanfare da lasse ich aus, ich habe nur zwei Hände!«
    Er tat, was er konnte, mit diesen zwei Händen und fügte oft, krähend und krächzend, aber durchaus erträglich, ja hinreißend durch innere Musikalität und enthusiastische Richtigkeit des Ausdrucks, seine singende Stimme hinzu. Abspringend und nebeneinanderstellend, kam er vom Hundertsten ins Tausendste, erstens, weil er Unendliches im Kopfe hatte und ihm beim Einen das Andere einfiel, dann aber besonders, weil es seine Passion war, zu vergleichen, Beziehungen aufzudecken, Einflüsse nachzuweisen, den verschränkten Zusammenhang der Kultur bloßzulegen. Es freute ihn, und stundenlang hielt er sich dabei auf, seinem Schüler sinnfällig zu machen, wie Franzosen auf Russen, Italiener auf Deutsche, Deutsche auf Franzosen gewirkt. Er ließ ihn hören, was Gounod von Schumann hatte, was César Franck von Liszt, wie Debussy sich auf Mussorgsky stützte, und wo D'Indy und Chabrier wagnerisierten. Zu zeigen, wie bloße Zeitgenossenschaft Wechselbeziehungen herstellt zwischen so verschiedenen Naturen wie Tschaikowsky und Brahms, gehörte auch zu diesen Lehrunterhaltungen. Er führte ihm Stellen vor aus den Werken des einen, die ebensogut von dem anderen hätten sein können. Bei Brahms, den er sehr hoch achtete, demonstrierte er ihm die Bezugnahme auf Archaisches, auf alte Kirchentonarten, und wie dies asketische Element bei ihm zum Mittel eines düsteren Reichtums und dunkler Fülle werde. Er gab seinem Schüler zu bemerken, wie in dieser Art von Romantik, unter vernehmbarer Berufung auf {116} Bach, das stimmenmäßige Prinzip dem modulatorisch-farbigen ernst entgegentrete und es zurückdränge. Wahre Stimmen-Selbständigkeit, wahre Polyphonie sei das aber ja doch nicht, sei es auch schon bei Bach nicht gewesen, bei dem man zwar die kontrapunktischen Künste der Vokalzeit überliefert finde, der aber doch von Geblüt ein Harmoniker und nichts anderes gewesen sei, – schon als Mann des temperierten Klaviers sei er das gewesen, dieser Voraussetzung für alle neuere harmonische Modulationskunst, und sein harmonischer Kontrapunkt habe mit alter vokaler Mehrstimmigkeit im Grunde nicht mehr zu tun gehabt als Händels akkordisches al fresco.
    Genau solche Äußerungen waren es nun, für die Adrian ein eigentümlich geschärftes Ohr hatte. Im Gespräch mit mir hielt er sich wohl darüber auf.
    »Bachs Problem«, sagte er, »lautete: ›Wie ist harmonisch sinnvolle Polyphonie möglich?‹ Bei den Neueren stellt die Frage sich etwas anders. Sie heißt da eher: ›Wie ist eine Harmonik möglich, die den Anschein der Polyphonie erweckt?‹ Merkwürdig, es sieht nach schlechtem Gewissen aus – nach dem schlechten Gewissen der homophonen Musik vor der Polyphonie.«
    Daß er durch so vieles Hören lebhaft zum Lesen von Partituren angeregt wurde, die er teils aus des Lehrers Privatbestande, teils aus der Stadtbibliothek entlieh, brauche ich nicht zu sagen. Ich betraf ihn oft bei solchem Studium und auch bei schriftlichem Instrumentierungswerk. Denn Bescheide über den Register-Umfang der einzelnen Orchester-Instrumente (Auskünfte, deren der Pflegesohn des Instrumentenhändlers übrigens kaum bedurfte) waren in den Unterricht eingeflossen, und Kretzschmar hatte angefangen, ihn mit der Orchestrierung kurzer klassischer Musikstücke, einzelner Klaviersätze von Schubert und Beethoven zu beauftragen, auch mit der Instrumentierung der Klavierbegleitung von Liedern: Übungs {117} arbeiten, deren Schwächen und klangliche Mißgriffe er ihm dann nachwies und verbesserte. In diese Zeit

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