Doktor Faustus
überliefert, die denn doch wohl das stallwärmste Klangmaterial ist, das sich erdenken läßt …«
»Meinst du?«
»Wie soll ich das nicht meinen! An Stallwärme gar nicht zu vergleichen mit irgend einem anorganischen Instrumentalklang. Abstrakt mag sie sein, die menschliche Stimme, – der abstrakte Mensch, wenn du willst. Aber das ist eine Art von Abstraktheit, ungefähr, wie der entkleidete Körper abstrakt ist, – es ist ja beinahe ein pudendum.«
Ich schwieg betroffen. Meine Gedanken führten mich weit zurück in unserem, in seinem Leben.
»Da hast du sie«, sagte er, »deine Musik.« (Und ich ärgerte mich über seine Ausdrucksweise, die darauf ausging, mir die Musik zuzuschieben, als ob sie mehr meine Sache gewesen wäre, als seine.) »Da hast du sie ganz, so war sie immer. Ihre Strenge, oder was du den Moralismus ihrer Form nennen magst, muß als Entschuldigung herhalten für die Berückungen ihrer Klangwirklichkeit.«
Einen Augenblick fühlte ich mich als der Ältere, Reifere.
»Einem Lebensgeschenk«, erwiderte ich, »um nicht zu sagen: einem Gottesgeschenk, wie der Musik, soll man nicht Anti {106} nomien höhnisch nachweisen, die nur von der Fülle ihres Wesens Zeugnis geben. Man soll sie lieben.«
»Hältst du die Liebe für den stärksten Affekt?« fragte er.
»Weißt du einen stärkeren?«
»Ja, das Interesse.«
»Darunter verstehst du wohl eine Liebe, der man die animalische Wärme entzogen hat?«
»Einigen wir uns auf die Bestimmung!« lachte er. »Gute Nacht!«
Wir waren wieder beim Leverkühn'schen Haus gelandet, und er öffnete sich das Tor.
IX
Ich blicke nicht zurück und hüte mich nachzuzählen, wieviel Blätter ich aufgehäuft zwischen der vorigen römischen Ziffer und der soeben gesetzten. Das Unglück – ein allerdings gänzlich unerwartetes Unglück – ist geschehen, und es wäre nutzlos, mich seinetwegen in Selbstanklagen und Entschuldigungen zu ergehen. Die Gewissensfrage, ob ich es einfach dadurch hätte vermeiden können und sollen, daß ich jedem einzelnen der Vorträge Kretzschmars ein besonderes Hauptstück zugewiesen hätte, muß ich verneinen. Jede gesonderte Teil-Einheit eines Werkes bedarf eines gewissen Schwergehaltes, eines bestimmten Maßes förderlicher Bedeutung für das Ganze, und dieses Gewicht, dieses Bedeutungsmaß kommt den Vorträgen nur in ihrer Gesamtheit (soweit ich sie referiert habe), – sie kommt nicht dem einzelnen zu.
Warum aber messe ich ihnen eine solche Bedeutung bei? Warum habe ich mich bewogen gesehen, sie in dieser Ausführlichkeit wiederzugeben? Ich nenne den Grund dafür nicht zum ersten Mal. Es ist einfach der, daß Adrian diese Dinge damals hörte, daß sie seine Intelligenz herausforderten, sich in seinem Gemüte niederschlugen und seiner Phantasie einen Stoff bo {107} ten, den man Nahrung nennen mag, oder Reizung, denn für die Phantasie ist das ein und dasselbe. Notwendigerweise war also auch der Leser dabei zum Zeugen zu machen; denn man schreibt keine Biographie, schildert nicht den Aufbau einer geistigen Existenz, ohne auch den, für den man schreibt, auf den Stand des Schülers, des lauschenden, lernenden, jetzt nahehin blickenden, jetzt ahnend voranschweifenden Neubeginners des Lebens und der Kunst zurückzuführen. Und was im Besonderen die Musik betrifft, so ist es mein Wunsch und Bestreben, den Leser auf ganz dieselbe Art ihrer ansichtig werden zu lassen; ihn auf ebendie Weise in Fühlung mit ihr zu bringen, wie es meinem verewigten Freunde geschah. Dazu aber erschienen mir die Reden seines Lehrers als ein unverächtliches, ja unentbehrliches Mittel.
Darum meine ich, scherzweise, daß mit Solchen, die in dem allerdings monströsen Vortragskapitel sich der Sprünge und Überschlagungen schuldig gemacht haben, so verfahren werden sollte, wie Lawrence Sterne mit einer imaginierten Zuhörerin verfährt, die durch eine Zwischenrede verrät, daß sie zeitweise nicht achtgegeben hat und deshalb vom Verfasser in ein früheres Kapitel zurückgeschickt wird, damit sie die Lücken ihres epischen Wissens ausfülle. Später dann, nachdem sie sich besser informiert, stößt die Dame wieder zu der erzählerischen Gemeinde und wird mit heiterem Gruß empfangen.
Dies kommt mir in den Sinn, weil Adrian als Primaner, zu der Zeit also, wo ich schon auf die Universität Gießen abgegangen war, unter der Einwirkung Wendell Kretzschmars privatim Englisch trieb, ein Fach, das ja außerhalb des humanistischen Lehrbereiches liegt, und mit
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