Doktor Faustus
Blicken ihn in persönliche Verbindung gebracht, sachlich unbefangen mit ihm zu reden.
Desto besser, wenn ich der Versuchung widerstanden und die Diskretion geübt hatte, die er verlangte. Wie gut haben wir uns, aus Nonnenmachers Kolleg heimgehend, über den unsterblichen, durch die Jahrtausende wirksamen Denker unterhalten, dessen vermittelndem geschichtlichen Wissen man die Kenntnis der pythagoräischen Weltkonzeption verdankt! Des Aristoteles Lehre von Stoff und Form entzückte uns: vom Stoff als dem Potentiellen, Möglichen, das zur Form drängt, um sich zu verwirklichen; von der Form als dem bewegenden Unbewegten, das Geist ist und Seele, die Seele des Seienden, die es zur Selbstverwirklichung, Selbstvollendung in der Erscheinung treibt; von der Entelechie also, die, ein Stück Ewigkeit, den Körper belebend durchdringt, sich im Organischen gestaltend manifestiert und sein Getriebe lenkt, sein Ziel kennt, sein Schicksal überwacht. Nonnenmacher hatte über diese Intuitionen sehr schön und ausdrucksvoll gesprochen, und Adrian zeigte sich außerordentlich bewegt davon. »Wenn«, sagte er, »die Theologie erklärt, daß die Seele von Gott sei, so ist das philosophisch richtig, denn als das Prinzip, das die Einzelerscheinungen formt, ist sie ein Teil der reinen Form alles Seins überhaupt, entstammt dem ewig sich selbst denkenden Denken, das wir ›Gott‹ nennen … Ich glaube zu verstehen, was Aristoteles mit der Entelechie meinte. Sie ist der Engel des Einzelwesens, der Genius seines Lebens, auf dessen wissende Führung es gern vertraut. Was man Gebet nennt, ist eigentlich die mahnende oder beschwörende Anmeldung dieses Vertrauens. Gebet aber heißt es mit Recht, weil es im Grunde Gott ist, den wir damit anrufen.«
Ich konnte nur denken: Möge dein Engel sich klug und treu erweisen!
{141} Wie gern hörte ich dieses Kolleg an Adrians Seite! Die theologischen, die ich – nicht regelmäßig – um seinetwillen besuchte, waren für mich ein zweifelhafteres Vergnügen, und nur, um nicht abgeschnitten zu sein von dem, was ihn beschäftigte, nahm ich hospitierend daran teil. Im Studienplan eines Theologie-Studenten liegt in den ersten Jahren das Schwergewicht auf den exegetischen und historischen Fächern, also auf Bibelwissenschaft, Kirchen- und Dogmengeschichte, Konfessionskunde; die mittleren gehören der Systematik, will sagen: der Religionsphilosophie, der Dogmatik, Ethik und Apologetik, und am Ende stehen die praktischen Disziplinen, das heißt: Liturgik, Predigtlehre, Katechetik, Seelsorge und Ekklesiastik nebst Kirchenrecht. Aber die akademische Freiheit läßt der persönlichen Vorliebe viel Spielraum, und von der Lizenz, die Reihenfolge auch einmal umzuwerfen, machte Adrian Gebrauch, indem er sich von Anfang an auf die Systematik warf, – aus allgemein geistigem Interesse gewiß, das in diesem Fache am meisten auf seine Rechnung kommt, dann aber auch, weil der Systematik lesende Professor, Ehrenfried Kumpf, der saftigste Sprecher an der ganzen Hochschule war und überhaupt den größten Zulauf von Studenten aller Jahrgänge, auch von nicht-theologischen, hatte. Ich sagte ja zwar, daß wir bei Kegel Kirchengeschichte hörten, aber das waren vergleichsweise trockene Stunden, und mit Kumpf konnte der monotone Kegel keineswegs wetteifern.
Jener war durchaus das, was die Studenten eine »wuchtige Persönlichkeit« nannten, und auch ich konnte mich einer gewissen Bewunderung seines Temperamentes nicht entschlagen, liebte ihn aber garnicht und habe niemals glauben können, daß nicht auch Adrian öfters von seiner Herzhaftigkeit sollte peinlich berührt gewesen sein, obgleich er ihn nicht offen ironisierte. »Wuchtig« war er schon seiner Physis nach: ein großer, massiger, voller Mann mit gepolsterten Händen, dröh {142} nender Stimme und einer vom vielen Sprechen leicht vorgebäumten, zum Spritzen geneigten Unterlippe. Es ist wahr, daß Kumpf gewöhnlich seinen Stoff nach einem gedruckten Lehrbuch, übrigens eigener Provenienz, vortrug; aber sein Ruhm waren die sogenannten »Ex-Pauken«, die er, die Fäuste bei zurückgerafftem Gehrock in seinen senkrechten Hosentaschen, auf dem breiten Katheder hin und her stapfend, in die Lesung einschaltete, und die dank ihrer Spontaneität, Derbheit, gesunden Aufgeräumtheit, auch wegen ihres pittoresk-altertümlichen Sprachstiles den Studenten außerordentlich gefielen. Seine Art war es, um ihn selbst zu zitieren, eine Sache »mit deutschen Worten« oder auch
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