Doktor Faustus
Lauf hätte haben können; und Adrian hatte in einem gegiebelten Bürgerhause am Marktplatz ein Zimmer mit Alkoven gefunden, das er als Untermieter einer älteren Beamtenswitwe während der zwei Jahre seines Aufenthaltes bewohnte. Der Blick ging auf den Platz, das mittelalterliche Rathaus, die Gotik der Marienkirche, zwischen deren gekuppelten Türmen eine Art von Seufzerbrücke geht; er umfaßte dazu den frei dastehenden »Roten {138} Turm«, ein sehr merkwürdiges Bauwerk von ebenfalls gotischem Stil, das Rolandsstandbild und die Bronzestatue Händels. Das Zimmer war nicht mehr als ordentlich, mit einer schwachen Andeutung bürgerlicher Pracht in Gestalt einer roten Plüschdecke über dem viereckigen Sofatisch, auf dem Bücher lagen, und an dem er morgens seinen Milchkaffee trank. Er hatte die Einrichtung durch ein geliehenes Pianino vervollständigt, das mit Noten, auch selbst geschriebenen, bedeckt war. Darüber an der Wand war mit Reißnägeln ein arithmetischer Stich befestigt, den er in irgend einem Altkramladen aufgetrieben: ein sogenanntes magisches Quadrat, wie es neben dem Stundenglase, dem Zirkel, der Waage, dem Polyeder und anderen Symbolen auch auf Dürers »Melencholia« erscheint. Wie dort war die Figur in sechzehn arabisch bezifferte Felder eingeteilt, so zwar, daß die 1 im rechten unteren, die 16 im linken oberen Felde zu finden war; und die Magie – oder Kuriosität – bestand nun darin, daß diese Zahlen, wie man sie auch addierte, von oben nach unten, in die Quere oder in der Diagonale, immer die Summe 34 ergaben. Auf welchem Anordnungsprinzip dies zauberisch gleichmäßige Ergebnis beruhte, habe ich nie herausbringen können, aber schon vermöge des prominenten Platzes über dem Instrument, den Adrian dem Blatte gegeben, zog es immer wieder die Augen auf sich, und ich glaube, es verging mir wohl kein Besuch in seinem Logis, ohne daß ich mit einem raschen Blick querhin, schräg hinauf oder gerade hinunter die fatale Stimmigkeit nachgeprüft hätte.
Zwischen meinem und seinem Quartier war es ein Hin und Her wie einst zwischen den »Seligen Boten« und seines Onkels Haus: abends sowohl, auf dem Heimwege von einem Theater, einem Konzert oder aus der »Winfried«-Vereinigung, wie auch am Morgen, wenn einer den anderen zur Universität abholte und wir, bevor wir uns auf den Weg machten, unsere Kolleghefte verglichen. Philosophie, die reguläres Prüfungsfach im {139} ersten theologischen Examen ist, war der Ort, an dem unser beider Studienprogramme sich von selbst berührten, und beide hatten wir bei Kolonat Nonnenmacher, damals einer der Leuchten der Universität Halle, belegt, der mit viel Schwung und Geist über die Vor-Sokratiker, die Ionischen Natur-Philosophen, über Anaximander und, am breitesten, über Pythagoras las, wobei viel Aristotelisches einfloß, da man ja über die pythagoräische Welterklärung fast nur durch den Stagiriten unterrichtet ist. Da lauschten wir denn, mitschreibend und von Zeit zu Zeit in das sanft lächelnde Gesicht des weiß bemähnten Professors aufblickend, dieser kosmologischen Frühkonzeption eines strengen und frommen Geistes, der seine Grundleidenschaft, die Mathematik, die abstrakte Proportion, die Zahl zum Prinzip der Weltentstehung und des Weltbestehens erhob und, der Allnatur als ein Wissender, ein Eingeweihter entgegenstehend, sie zuerst mit großer Gebärde als »Kosmos«, als Ordnung und Harmonie, als übersinnlich tönendes Intervall-System der Sphären ansprach. Die Zahl und das Zahlenverhältnis als konstituierender Inbegriff des Seins und der sittlichen Würde, – es war höchst eindrucksvoll, wie hier das Schöne, das Exakte, das Sittliche feierlich zusammenflossen zur Idee der Autorität, die den pythagoräischen Bund, die esoterische Schule religiöser Lebenserneuerung, des schweigenden Gehorsams und der strikten Unterwerfung unter das »Autòs épha« beseelte. Ich muß mich der Taktlosigkeit anklagen, weil ich bei solchen Worten unwillkürlich nach Adrian blickte, um in seiner Miene zu lesen. Zur Taktlosigkeit nämlich wurde es gemacht durch das Unbehagen, das verdrießlich errötende sich Abwenden, mit dem er es aufnahm. Er liebte anzügliche Blicke nicht, weigerte sich durchaus, darauf einzugehen, sie zu erwidern, und es ist fast unbegreiflich, daß ich, obgleich bekannt mit seiner Eigenheit, solche Nachschau nicht immer unterlassen konnte. Ich verscherzte mir dadurch die Möglichkeit, nachher {140} über Dinge, mit denen mein stummes
Weitere Kostenlose Bücher