Doktor Faustus
er war christlicher Sozialist, und oft zitierte er Goethe's Äußerung, das Christentum sei eine politische Revolution gewesen, die, verfehlt, moralisch geworden sei. Poli {177} tisch, sagte er auch jetzt, müsse es wieder werden, nämlich sozial: Das sei das wahre und einzige Mittel zur Disziplinierung des Religiösen, dessen Ausartungsgefahren Leverkühn gar nicht schlecht geschildert habe. Der religiöse Sozialismus, die sozial gebundene Religiosität, das sei es, denn die rechte Bindung zu finden, daran sei alles gelegen, und die theonome Bindung müsse mit der sozialen, mit der Bindung an die von Gott gestellte Aufgabe der Gesellschaftsvervollkommnung vereinigt werden. »Glaubt mir nur«, sagte er, »auf das Heranwachsen eines verantwortlichen Industrievolkes, einer internationalen Industrie-Nation kommt alles an, die einmal eine echte und rechte europäische Wirtschaftsgesellschaft bilden kann. In der werden alle Gestaltungsimpulse liegen, und liegen keimhaft schon jetzt, nicht bloß zur technischen Durchführung einer neuen Wirtschaftsorganisation, nicht nur zu einer durchgreifenden Hygienisierung der naturalen Lebensbezüge, sondern auch zur Begründung neuer politischer Ordnungen.«
Ich gebe die Reden dieser jungen Leute so wieder, wie sie gehalten wurden, in ihren Ausdrücken, die einem gelehrten Jargon angehörten, dessen Gespreiztheit ihnen nicht im mindesten zum Bewußtsein kam; vielmehr bedienten sie sich seiner in aller Vergnügtheit und Bequemlichkeit, ganz natürlich, indem sie sich das gestelzt Anspruchsvolle mit virtuoser Anspruchslosigkeit zuwarfen. »Naturale Lebensbezüge« und »theonome Bindung«, das waren solche Preziositäten; man hätte es auch einfacher sagen können, aber dann wäre es nicht ihre geisteswissenschaftliche Sprache gewesen. Gern stellten sie »die Wesensfrage«, redeten vom »sakralen Raum« oder dem »politischen Raum«, oder vom »akademischen Raum«, von »Strukturprinzip«, von »dialektischem Spannungsverhältnis«, von »seinshaften Entsprechungen« und so fort. Deutschlin, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, stellte also jetzt die Wesensfrage nach dem genetischen Ursprung von Arztens Wirtschafts {178} gesellschaft. Der sei doch kein anderer als die ökonomische Vernunft, und immer nur diese könne in der Wirtschaftsgesellschaft auch repräsentiert werden. »Wir müssen uns doch klar darüber sein, Matthäus«, sagte er, »daß das Gesellschaftsideal der ökonomischen Sozialorganisation einem aufklärerisch-autonomen Denken entstammt, kurz, einem Rationalismus, der von der Mächtigkeit über- und untervernünftiger Gewalten noch gar nicht erfaßt ist. Aus der bloßen Einsicht und Vernunft des Menschen glaubst du eine gerechte Ordnung entwickeln zu können, wobei du ›gerecht‹ und ›sozialnützlich‹ gleichsetzest, und daraus, meinst du, werden neue politische Ordnungen kommen. Der ökonomische Raum ist aber ein ganz anderer, als der politische, und vom ökonomischen Nützlichkeitsdenken zum geschichtsbezogenen politischen Bewußtsein gibt es gar keinen direkten Übergang. Ich verstehe nicht, wie du das verkennen kannst. Politische Ordnung bezieht sich auf den Staat, und der ist eine nicht von der Nützlichkeit her bestimmte Macht und Herrschaftsform, worin denn doch andere Qualitäten repräsentiert werden, als Unternehmervertreter und Gewerkschaftssekretäre sie kennen, zum Beispiel Ehre und Würde. Für solche Qualitäten, mein Lieber, bringen die Leute des ökonomischen Raums nicht die nötigen seinshaften Entsprechungen mit.«
»Ach, Deutschlin, was redest du«, sagte Arzt. »Wir wissen doch als moderne Soziologen ganz gut, daß auch der Staat von nützlichen Funktionen bestimmt ist. Da ist die Rechtsprechung, da ist die Sicherheitsgewährung. Und dann leben wir doch überhaupt in einem ökonomischen Zeitalter, das Ökonomische ist einfach der geschichtliche Charakter dieser Zeit, und Ehre und Würde helfen dem Staat keinen Deut, wenn er es nicht versteht, die ökonomischen Verhältnisse von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten.«
Deutschlin gab das zu. Aber er leugnete, daß Nützlichkeits {179} funktionen die
wesentliche
Begründung des Staates seien. Die Legitimierung des Staates liege in seiner Hoheit, seiner Souveränität, die darum unabhängig vom Wertschätzen einzelner bestehe, weil sie – sehr im Gegensatz zu den Flausen des Contrat Social –
vor
dem einzelnen da sei. Die überindividuellen Zusammenhänge hätten nämlich ebenso viel
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