Doktor Faustus
doch schließlich so weither wie die anderen, und vielleicht spiegelt nur unsere Geschichte, daß wir ein bißchen verspätet zusammenfanden und ein gemeinsames Selbstbewußtsein ausbildeten, uns eine besondere Jugendlichkeit vor.«
»Es ist doch wohl anders«, versetzte Deutschlin. »Jugend im höchsten Sinn hat nichts mit politischer Geschichte, überhaupt nichts mit Geschichte zu tun. Sie ist eine metaphysische Gabe, etwas Essentielles, eine Struktur und Bestimmung. Hast du nie vom deutschen Werden gehört, von deutscher Wanderschaft, vom unendlichen Unterwegssein des deutschen Wesens? Wenn du willst, ist der Deutsche der ewige Student, der ewig Strebende unter den Völkern …«
»Und seine Revolutionen«, schaltete Adrian kurz auflachend ein, »sind der Budenzauber der Weltgeschichte.«
{175} »Sehr geistreich, Leverkühn. Aber mich wundert doch, daß dein Protestantismus dir erlaubt, so witzig zu sein. Man kann es notfalls auch ernster nehmen, was ich Jugend nenne. Jung sein heißt ursprünglich sein, heißt den Quellen des Lebens nahe geblieben sein, heißt aufstehen und die Fesseln einer überlebten Zivilisation abschütteln können, wagen, wozu anderen die Lebenscourage fehlt, nämlich wieder unterzutauchen im Elementaren. Jugendmut, das ist der Geist des Stirb und Werde, das Wissen um Tod und Wiedergeburt.«
»Ist das so deutsch?« fragte Adrian. »Wiedergeburt hieß einmal rinascimento und ging in Italien vor sich. Und ›Zurück zur Natur‹, das wurde zuerst auf französisch empfohlen.«
»Das eine war eine Bildungserneuerung«, erwiderte Deutschlin, »das andere ein sentimentales Schäferspiel.«
»Aus dem Schäferspiel«, beharrte Adrian, »kam die französische Revolution, und Luthers Reformation war nur ein Ableger und ethischer Seitenweg der Renaissance, ihre Anwendung aufs Religiöse.«
»Aufs Religiöse, da sagst du es. Und das Religiöse ist allerwege etwas anderes als archäologische Auffrischung und kritischer Gesellschaftsumsturz. Religiosität, das ist vielleicht die Jugend selbst, es ist die Unmittelbarkeit, der Mut und die Tiefe des personalen Lebens, der Wille und das Vermögen, die Naturhaftigkeit und das Dämonische des Daseins, wie es uns durch Kierkegaard wieder zum Bewußtsein gekommen ist, in voller Vitalität zu erfahren und zu durchleben.«
»Hältst du Religiosität für eine auszeichnend deutsche Gabe?« fragte Adrian.
»In dem Sinne, den ich ihr gab, als seelische Jugend, als Spontaneität, als Lebensgläubigkeit und Dürer'sches Reiten zwischen Tod und Teufel – allerdings.«
»Und Frankreich, das Land der Kathedralen, dessen König der allerchristlichste hieß, und das Theologen wie Bossuet, wie Pascal hervorgebracht hat?«
{176} »Das ist lange her. Seit Jahrhunderten ist Frankreich von der Geschichte zur antichristlichen Sendungsmacht in Europa ausersehen. Von Deutschland gilt das Gegenteil, das würdest du fühlen und wissen, Leverkühn, wenn du eben nicht Adrian Leverkühn wärest, das heißt: zu kühl, um jung, und zu gescheit, um religiös zu sein. Mit der Gescheitheit mag man es in der Kirche weit bringen, aber kaum im Religiösen.«
»Vielen Dank, Deutschlin«, lachte Adrian. »In gut altdeutschen Worten, wie Ehrenfried Kumpf sagen würde, ohn' alle Bemäntelung hast du's mir gegeben. Ich habe eine Ahnung, daß ich es auch in der Kirche nicht weit bringen werde, aber gewiß ist, daß ich ohne sie nicht Theolog geworden wäre. Ich weiß ja, daß es die Begabtesten von euch sind, die Kierkegaard gelesen haben, die Wahrheit, auch die ethische Wahrheit, ganz ins Subjektive verlegen und alles Herdendasein perhorreszieren. Aber ich kann eueren Radikalismus, der übrigens bestimmt nicht lange vorhalten wird, der eine Studentenlizenz ist, – ich kann euere Kierkegaard'sche Trennung von Kirche und Christentum nicht mitmachen. Ich sehe in der Kirche, auch noch, wie sie heute ist, säkularisiert und verbürgerlicht, eine Burg der Ordnung, eine Anstalt zur objektiven Disziplinierung, Kanalisierung, Eindämmung des religiösen Lebens, das ohne sie der subjektivistischen Verwilderung, dem numinosen Chaos verfiele, zu einer Welt phantastischer Unheimlichkeit, einem Meer von Dämonie würde. Kirche und Religion zu trennen, heißt darauf verzichten, das Religiöse vom Wahnsinn zu trennen …«
»Na, höre mal!« sagten mehrere. Aber:
»Recht hat er!« erklärte unumwunden Matthäus Arzt, den die anderen den »Sozialarzt« nannten, denn das Soziale war seine Passion,
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