Doktor Faustus
Mathematik überzugehen, bei der er auf der Schule immer gute Unterhaltung gefunden habe. (Der Ausdruck »gute Unterhaltung« ist wörtlich seinem Briefe entnommen.) Aber mit einer Art von Schrecken vor sich selber sehe er es kommen, daß er auch von dieser Disziplin, wenn er sie zu der seinen mache, sich ihr verschwöre, sich mit ihr identifiziere, sehr bald ernüchtert werden, sich an ihr langweilen, der Sache so müd und satt sein werde, als wenn {191} er's mit eisernen Kochlöffeln gegessen. (Auch dieser barocken Redewendung erinnere ich mich wörtlich aus seinem Brief.) »Ich kann es euch nicht verhalten«, schrieb er, (denn obgleich er den Adressaten in der Regel mit Sie anredete, verfiel er zuweilen in die altertümliche Ihr-Form) »– weder euch noch mir, daß es mit euerem apprendista eine gottverlassene Bewandtnis hat, keine ganz wochentägliche, ich verstecke mich nicht so, aber eine, die eher Anlaß gibt zur Erbärmde, als daß sie einem sollte die Augen im Kopfe leuchten lassen.« Er habe von Gott einen versatilen Verstand zur Gabe erhalten und von seinen kindlichen Tagen auf ohn' sonderbare Mühe alles aufgefaßt, was die Erziehung ihm dargeboten – zu leicht wohl eigentlich, als daß irgend etwas davon bei ihm zu rechtem Ansehen hätte kommen können. Zu leicht, als daß Blut und Sinn sich um eines Gegenstandes willen und durch die Bemühung um ihn je recht hätten erwärmen sollen. »Ich fürchte«, schrieb er, »lieber Freund und Meister, ich bin ein schlechter Kerl, denn ich habe keine Wärme. Es heißt zwar, verflucht und ausgespien seien die, die weder kalt noch warm, sondern lau sind. Lau möchte ich mich nicht nennen; ich bin entschieden kalt, – aber in meinem Urteil über mich selbst bitte ich mir Unabhängigkeit aus von dem Geschmack der Segen und Fluch verteilenden Macht.«
Er fuhr fort:
»Lächerlich zu sagen, aber auf dem Gymnasium war es noch am besten, ich war dort ziemlich recht noch am Ort, darum, weil die höhere Vorschule das Verschiedenste, eins nach dem anderen, austeilt, von fünfundvierzig zu fünfundvierzig Minuten die Gesichtspunkte einander ablösen, kurz, weil es noch keinen Beruf gibt. Aber schon diese fünfundvierzig Fach-Minuten weilten mir zu lange, machten mir Langeweile – das kälteste Ding von der Welt. Nach fünfzehn, spätestens, hatte ich los, woran der gute Mann mit den Buben noch dreißig {192} kaute; beim Lesen der Schriftsteller las ich voran, hatte übrigens schon zu Hause voran gelesen, und blieb ich eine Antwort schuldig, so darum nur, weil ich voran und eigentlich schon in der nächsten Stunde war, dreiviertel Stunden Anabasis, das war zu viel von ein und demselben für meine Geduld, und des zum Zeichen stellte das Hauptweh sich ein« (damit meinte er seine Migräne), »– das Hauptweh kam nie von Ermüdung durch Mühe, es kam von Überdruß, von kalter Langerweile, und, lieber Meister und Freund, seit ich kein von Fach zu Fach springender Junggeselle mehr bin, sondern verheiratet mit einem Beruf, einem Studio, hat es sich zusammen mit mir ins oft schon recht Arge verstärkt.
Großer Gott, Sie werden nicht glauben, daß ich mich für zu schade halte für jeden Beruf. Im Gegenteil: es ist mir schade um jeden, den ich zu dem meinen mache, und Sie mögen eine Huldigung für – eine Liebeserklärung an die Musik darin sehen, eine Ausnahmestellung zu ihr, daß es mir um sie ganz besonders schade wäre.
Sie werden fragen: ›Es war dir nicht schade um die Theologie?‹ – Ich habe mich ihr unterstellt, nicht sowohl, wenn auch aus diesem Grunde zugleich –, weil ich die höchste Wissenschaft in ihr sah, sondern weil ich mich demütigen, mich beugen, mich disziplinieren, den Dünkel meiner Kälte bestrafen wollte, kurz, aus contritio. Mich verlangte nach dem härenen Kleid, dem Stachelgürtel darunter. Ich tat, was Frühere taten, wenn sie ans Tor pochten eines Klosters von strenger Observanz. Es hat seine absurden und lächerlichen Seiten, dies wissenschaftliche Klosterleben, aber wollen Sie verstehen, daß ein geheimer Schrecken mich abmahnt, es aufzugeben, die H. Schrift unter die Bank zu legen und in die Kunst zu entlaufen, in die Sie mich einführten, und um die es mir, als Beruf für mich, so ausnehmend schade wäre?
Sie halten mich für berufen zu dieser Kunst und geben mir {193} zu verstehen, daß der ›Schritt vom Wege‹ zu ihr nicht gar groß wäre. Mein Luthertum stimmt dem zu, denn es sieht in Theologie und Musik benachbarte, nahe
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