Doktor Faustus
stellte mir vor, daß manchem von ihnen später einmal seine »Winfried«-Zeit als der größte Abschnitt seines Lebens erscheinen werde. Ich betrachtete sie und betrachtete Adrian – mit dem überdeutlichen Vorgefühl, daß sie ihm bestimmt nicht so erscheinen werde. War ich, als Nicht-Theolog, ein Hospitant unter ihnen, – er war es, obgleich Theolog, noch mehr. Warum? Ich spürte, nicht ohne Beklemmung, einen Schicksalsabgrund zwischen dieser strebend gehobenen Jugend und seiner Existenz, den Unterschied der Lebenskurve zwischen gutem, ja vortrefflichem Durchschnitt, dem bald aus dem vagierenden, versuchenden Burschentum ins bürgerliche Leben einzulenken bestimmt war, und dem unsichtbar Gezeichneten, der den Weg des Geistes und der Problematik nie verlassen, ihn wer weiß, wohin, weitergehen sollte, und dessen Blick, dessen nie ganz ins Brüderliche sich lösende Haltung, dessen Hemmungen beim Du- und Ihr- und Wir-sagen mich und wahrscheinlich auch die anderen empfinden ließ, daß auch er diesen Unterschied ahnte.
Schon zu Beginn seines vierten Semesters hatte ich Anzeichen, daß mein Freund das theologische Studium noch vor dem ersten Examen abzubrechen gedachte.
XV
Adrians Beziehungen zu Wendell Kretzschmar hatten sich niemals gelöst oder gelockert. Der junge Beflissene der Gotteswissenschaft sah den musikalischen Mentor seiner Gymnasialzeit in jeden Ferien, wenn er nach Kaisersaschern kam, besuchte ihn und beredete sich mit ihm in der Dom-Wohnung {187} des Organisten, sah ihn auch im Hause seines Onkels Leverkühn und bestimmte ein- oder zweimal seine Eltern, ihn für das Wochenende nach Hof Buchel einzuladen, wo er ausgedehnte Spaziergänge mit ihm machte und Jonathan Leverkühn bewog, seinem Gast die Chladni'schen Klangfiguren und den fressenden Tropfen vorzuführen. Mit dem alternden Buchel-Wirt stand Kretzschmar sehr gut, weniger unbefangen dagegen, wenn auch keineswegs auf irgendwie wirklich gespanntem Fuß, mit Frau Elsbeth, vielleicht weil diese durch sein Stotterleiden geängstigt wurde, das sich wohl eben darum in ihrer Gegenwart, hauptsächlich im direkten Gespräch mit ihr, verschlimmerte. Es war merkwürdig: In Deutschland genießt doch die Musik das populäre Ansehen, dessen sich in Frankreich die Literatur erfreut, und niemand ist bei uns befremdet, eingeschüchtert, unangenehm berührt oder zu Mißachtung und Spott gestimmt durch die Tatsache, daß einer ein Musiker ist. Ich bin auch überzeugt, daß Elsbeth Leverkühn der Existenz von Adrians älterem Freund, der seine Tätigkeit noch dazu als bestallter Mann, im Dienste der Kirche übte, vollen Respekt entgegenbrachte. Dennoch beobachtete ich während der zweieinhalb Tage, die ich einmal gleichzeitig mit ihm und Adrian auf Buchel verbrachte, eine gewisse, durch Freundlichkeit nicht ganz verhüllte Gezwungenheit, Zurückhaltung, Ablehnung in ihrem Verhalten gegen den Organisten, die dieser, wie gesagt, mit einer ein paarmal bis zum Kalamitosen gehenden Verstärkung seines Stotterns beantwortete – schwer zu sagen, ob nur aus dem Grunde, weil er ihr Unbehagen, ihr Mißtrauen, oder wie man es nennen soll, spürte, oder weil er schon von sich aus, spontan, bestimmten Hemmungen der Scheu und der Verlegenheit vor der Natur dieser Frau unterlag.
Was mich betraf, so zweifelte ich nicht, daß die eigentümliche Spannung zwischen Kretzschmar und Adrians Mutter sich auf diesen bezog, daß er ihr Gegenstand war, und ich {188} spürte das, weil ich in dem stillen Streit, der hier herrschte, mit meinen eigenen Empfindungen zwischen den Parteien die Mitte hielt, mich der einen und auch wieder der anderen zuneigte. Was Kretzschmar wollte, und wovon er auf jenen Spaziergängen mit Adrian sprach, war mir klar, und meine eigenen Wünsche unterstützten ihn insgeheim. Ich gab ihm recht, wenn er, auch im Gespräch mit mir, die Berufung seines Schülers zum Musiker, zum Komponisten mit Entschiedenheit, ja mit Dringlichkeit vertrat. »Er hat«, sagte er, »auf die Musik den kompositorischen Blick des Initiierten, nicht den der Außenstehenden, vag Genießenden. Seine Art, Motiv-Zusammenhänge aufzudecken, die ein solcher nicht sieht, die Gliederung eines kurzen Abschnitts gleichsam in Frage und Antwort wahrzunehmen, überhaupt zu sehen, von innen zu sehen, wie es gemacht ist, versichert mich meines Urteils. Daß er noch nicht schreibt, nicht produktiven Trieb bekundet und mit Jugend-Kompositionen naiv loslegt, gereicht ihm nur zur Ehre; es ist Sache
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