Doktor Faustus
versäumt; ich lernte, es als ein Dokument zu betrachten, von dem der Vernichtungsbefehl ein Bestandteil war, so daß er eben durch seinen dokumentarischen Charakter sozusagen sich selber aufhob.
Soviel war mir von Anfang an gewiß: zu der Vorschrift am Schluß hatte nicht der ganze Brief Anlaß gegeben, sondern nur ein Teil davon, die sogenannte Facetie und Büffelposse, das Erlebnis mit dem fatalen Dienstmann. Aber wiederum: dieser Teil war der ganze Brief; um seinetwillen war er geschrieben worden – nicht zu meiner Erheiterung; zweifellos hatte der Schreiber gewußt, daß der »Schwanck« nichts Erheiterndes für mich haben werde; sondern zur Entlastung von einem erschütternden Eindruck, für welche ich, der Kindheitsfreund, allerdings die einzige Stelle war. Alles übrige war Zutat, Ein {212} hüllung, Vorwand, Aufschub und, nachher, ein gesprächiges Wiederzudecken mit musikkritischen Aperçus, als ob nichts gewesen wäre. Auf die
Anekdote
, um ein sehr sachliches Wort zu gebrauchen, steuert alles zu; sie steht im Hintergrunde von Anfang an, meldet sich an in den ersten Zeilen und wird verschoben. Noch unerzählt spielt sie hinein in das Scherzen mit der großen Stadt Ninive und dem skeptisch-entschuldigenden Wort des Propheten. Sie ist nahe daran, erzählt zu werden, dort, wo zum erstenmal des Dienstmannes Erwähnung geschieht – und verschwindet aufs neue. Der Brief wird scheinbar geschlossen, bevor sie berichtet ist – »Iam satis est« – und als wäre sie dem Schreiber fast aus dem Sinn gekommen, als brächte nur der zitierte Gruß des Schleppfuß sie ihm wieder in Erinnerung, wird sie, »eben noch rasch« sozusagen, unter sonderbarer Rückbeziehung auf des Vaters Schmetterlingskunde, mitgeteilt, darf aber nicht den Schluß des Briefes bilden, sondern es werden Betrachtungen über Schumann, die Romantik, Chopin daran gehängt, die offenbar den Zweck verfolgen, ihr das Gewicht zu nehmen, sie wieder in Vergessenheit zu bringen, – oder richtiger wohl: die sich von Stolzes wegen den Anschein geben, als verfolgten sie diesen Zweck; denn ich glaube nicht, daß wirklich die Absicht bestand, ich, der Leser, möchte über das Kernstück des Briefes hinweglesen.
Sehr merkwürdig war mir schon bei zweiter Durchsicht, daß die Stilgebung, die Travestie oder persönliche Adaption des Kumpf'schen Altdeutsch nur vorhält, bis jenes Abenteuer erzählt ist, danach aber achtlos fallengelassen wird, so daß die Schlußseiten ganz davon entfärbt sind und eine rein moderne sprachliche Haltung zeigen. Ist es nicht, als hätte der archaisierende Ton seinen Zweck erfüllt, sobald die Geschichte der Fehlführung auf dem Papier steht, und danach aufgegeben wird, nicht sowohl, weil er für die ablenkenden Schlußbetrachtungen nicht paßt, sondern weil er, vom Datum an, nur ein {213} geführt war, um
die Geschichte
darin erzählen zu können, die dadurch die ihr angemessene Atmosphäre erhält? Und welche denn? Ich will es aussprechen, so wenig die Bezeichnung, die ich im Sinne habe, auf eine Farce anwendbar scheint. Es ist die religiöse Atmosphäre. Dies war mir klar: wegen seiner historischen Affinität zum Religiösen war das Reformationsdeutsch für einen Brief gewählt worden, der mir diese Geschichte bringen sollte. Wie hätte ohne das Spiel mit ihm das Wort hingeschrieben werden können, das doch hingeschrieben sein wollte: »Betet für mich!«? Es gab kein besseres Beispiel für das Zitat als Deckung, die Parodie als Vorwand. Und kurz davor steht ein anderes Wort, das mir schon bei erstem Lesen in die Glieder fuhr und ebenfalls nichts mit Humoreske zu tun hat, sondern ein ausgemacht mystisches, also religiöses Gepräge trägt: das Wort »Lusthölle«.
Wenige werden sich durch die Kühlheit der Analyse, der ich soeben und damals gleich Adrians Brief unterzog, über die wirklichen Gefühle haben täuschen lassen, mit denen ich ihn wieder und wieder las. Analyse hat notwendig den Anschein der Kühle, auch wenn sie im Zustande tiefer Erschütterung geübt wird. Erschüttert aber war ich, mehr noch, ich war außer mir. Meine Wut über den obszönen Streich des Gose-Schleppfuß kannte keine Grenzen, – und darin möge der Leser keine Kennzeichnung meiner selbst, kein Merkmal meiner eigenen Prüderie sehen – ich war niemals prüde und hätte, wäre mir jene Leipziger Nasführung zugestoßen, schon gute Miene dazu zu machen gewußt –; sondern er möge durch meine Gefühle Adrians Sein und Wesen
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