Doktor Faustus
thut niemand gerauen.‹ Ist an der Pleiße, Parthe und Elster doch unleugbar ein ander Dasein und geht ein anderer Puls, als an der Saala, weil nämlich ein ziemlich groß Volk hier versammlet ist, mehr als siebenhunderttausend, was von vornherein zu einer gewissen Sympathie und Duldung stimmt, wie der Prophet schon für Ninives Sünde ein wissend und humorhaft verstehend Herz hat, wenn er entschuldigend sagt: ›Solche große Stadt, darinnen mehr als hunderttausend Menschen.‹ Da magstu denken, wies erst bei siebenhunderttausend Nachsicht erheischend zugeht, wo sie in den Messe-Zeiten, von deren {205} herbstlicher ich als Neu-Kömmling eben noch eine Probe hatte, aus allen Teilen Europas, dazu aus Persien, Armenien und anderen asiatischen Ländern noch erklecklichen Zustrom haben.
Nicht als ob mir dies Ninive sonderlich gefiele, ist gewiß nicht die schönste Stadt meines Vaterlandis, Kaisersaschern ist schöner, hat aber auch leichter schön sein und würdig, da es nichts weiter als alt und still zu sein braucht und keinen Puls hat. Ist schon prächtig gebaut, mein Leipzig, recht wie aus einem teuereren Steinbaukasten, und dazu reden die Leute überaus teuflisch gemein, daß man vor jedem Laden scheut, ehe man was erhandelt, – ist als ob unser sanft verschlafenes Thüringisch aufgeweckt wäre zu einer Siebenhunderttausend-Mann-Frechheit und Ruchlosigkeit des Maulwerks mit vorgeschobenem Unterkiefer, greulich, greulich, aber bewahre Gott, gewißlich nicht böse gemeint und mit Selbstverspottung vermischt, die sie sich leisten können auf Grund ihres Weltpulses. Centrum musicae, centrum des Druckwesens und der Buchgremplerei, hochleuchtende universitet, – übrigens baulich zersplittert: das Hauptgebäude ist am Augustusplatz, die Bibliothek beim Gewandhaus, und zu den unterschiedlichen Facultäten gehören besondre Collegiengebäude, wie zu der philosophischen das Rothe Haus an der Promenade und zur juristischen das Collegium beatae Virginis, in meiner Petersstraße, wo ich sogleich, nur frisch vom Hauptbahnhof, auf dem ersten Weg in die Stadt, passende Herberg und Unterkunft fand. Kam am frühen Nachmittag an, ließ mein Sach in der Niederlage, ging wie geführt hieher, las den Zettel am Regenrohr, schellte und war gleich mit der dicken, teuflisch redenden Vermieterin handelseins von wegen der beiden Gezimmer im Erdgeschoß. War noch so früh an der Zeit danach, daß ich den Tag noch in erster Ankunftslaune beinahe die ganze Stadt besah, – diesmal wirklich geführt, nämlich von dem Dienstmann, {206} der mein Felleisen vom Bahnhof geholt: daher eben zu letsten der Schwanck und das Speiwerk, davon ich geredt und dir vielleicht noch erzählen will.
Wegen des Klavizimbels hat die Dicke auch keine Faxen gemacht; sie sind's gewöhnt hier. Liege ihr auch nicht allzuviel in den Ohren damit, denn ichs vornehmlich theoretisch treibe zur Zeit, mit Büchern und Schreibzeug, die Harmoniam und den punctum contra punctum, ganz auf eigene Faust, ich will sagen: unter Aufsicht und Maßregelung amici Kretzschmars, dem ich das Geübte und Gemachte alle paar Täg zur Gut- und Schlechtheißung hintrage. Hat sich baß gefreut, der Mann, wie ich kam und mich in die Arme geschlossen, denn ich ihm seine Zuversicht nicht wöllen hindern. Will auch nichts wissen für mich vom Konservatorium, weder vom großen, noch von dem Hase'schen, wo er lehrt; wär, sagt er, keine Atmosphäre für mich, sondern solls eher machen, wie Vater Haydn, der überall keinen praeceptor gehabt, sondern sich den Gradus ad Parnassum von Fux und etwelche Musik von damals, insonderheit des Hamburger Bach, verschafft und sich daraus brav das Handwerck erübt. Unter uns gesagt, macht die Harmonielehre mir viel Gähnens, da ich doch bei dem Kontrapunkt sofort lebendig werde, nicht genug kurtzweiliger Bossen auf diesem Zauberfelde anstellen kann, mit wohl-lustbarlicher Versessenheit die nicht endenden Probleme löse und schon einen ganzen Stapel schnurriger Canon- und Fugen-Studien zusammengeschrieben, auch mir vom Meister manches Lob dafür geholt habe. Das ist produktive, Phantasie und Erfindung aufrufende Arbeit, da das Dominospiel mit den Akkorden ohne Thema meim Bedünken nach der Welt weder zu sieden noch zu braten taugt. Sollte man nicht alldas von Vorhalten, Durchgangsnoten, Modulation, Vorbereitungen und Auflösungen viel besser in praxi, vom Hören, Erfahren und Selbstfinden lernen, denn aus dem Buch? Überhaupt nun aber und per aversionem ist's
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